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Minderheitenfragen und die Kraft literarischer Bildfindung

Matthias Theodor Vogt: Und wenn „die Zigeuner“ selbst…? Minderheitenfragen und die Kraft literarischer Bildfindung am Beispiel des Rroma-Romans „Andere Akkorde“ von Simone Schönett (Klagenfurt 2018) [And what if ‚the Rroma‘ themselves…? Minority issues and the force of literary pictorial invention taking as an example the Rroma novel “Andere Akkorde” [Divergent Chords] by Simone Schönett (Klagenfurt 2018)]. In: Minderheitenschutz als Investition in den Frieden. Festschrift zu Ehren von Univ. Prof. Dr. Christoph Pan anlässlich der Vollendung seines 80. Lebensjahres am 28. Januar 2018. Europäisches Journal für Minderheitenfragen EJM 1 1 , 3-4 | 2018, pp 427–450.

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Abstract

A specific form of investing in the internal peace of Europe is an understanding among diverse ethnic groups on the same territory. This is particularly arduous in countries like Italy, France or Hungary where today’s populist political approaches are celebrating centuries-old stereotypes as a defence against a fundamentally different form of life, as in the case of the ‘Gypsy-Travellers’. Their contempt for land ownership, prevailing from nomadic times (so the stereotype), stands in sharpest possible contrast to land ownership, which, according to Carl Schmitt’s Nomos theory, founded ‘our’ entire civilisation.

The Council of Europe considers the Rroma ethnic group to be the largest European minority. Only a closer look reveals how complex the play of external and self-attributions within and towards this particular ethnic group is, starting with its names and numbers. The novel “Andere Akkorde” [Divergent Chords] by Simone Schönett (Klagenfurt 2018) makes us understand this complexity.

The repression mechanisms for guilt, not only that of the Nazi regime in its own territory and in occupied territories, but of approximately six hundred years of state and sub-state rejection, contribute significantly to the lack of an overall understanding. The novel shows, too, how literary pictorial inventions can contribute to such an understanding, and how they are able to transcend what can be said in science.

Keywords

Rroma ethnic group; antigypsyism; transfer of narratives; non-correctness through political correctness; literary pictorial inventions.

1. Minderheitenfragen ‚unter die Haut‘ bringen

Frieden ist eine der großen Hoffnungen des Menschen. Im Kleinen bildet er eine tägliche Herausforderung an den Einzelnen und seine Gemeinschaft. Im Großen bildet die 1648 institutionalisierte Hegung des Krieges und der Versuch einer Ermöglichung von Frieden zwischen den Völkern eine jahrhunderteüberspannende Herausforderung. Sie erhielt 1789 ff. durch die Erfindung des Prinzips Nation – als grundlegendes und tunlichst unhinterfragtes Element von Staatlichkeit – eine neue und bis heute keineswegs grundsätzlich gelöste Spannung: die Kollusion zwischen den Narrativen der einzelnen Staatsvölker. Im Mittleren jedoch – der Verständigung zwischen der Mehrheitsbevölkerung auf dem jeweiligen Territorium und Volksgruppen mit davon abweichenden Narrativen – führte 1918 die Wilsonsche Durchsetzung des Prinzips Nation auch in Mittel- und Südosteuropa zu einer Verschärfung der Stigmatisierung von Volksgruppen ohne eigenen Staat. Erst nach Jahrzehnten der Bemühung durch den Europarat kam diese spezifische Form einer Investition in den inneren Frieden Europas in den 1990er-Jahre auf die politische Agenda.

Doch Straßburg ist weit. Besonders mühsam gestaltet sich die Verständigung mit einzelnen Volksgruppen dort, wo auch heute noch jahrhundertealte Stereotypen in populistischen Politikansätzen Urstände feiern und nicht einfach als Abwehr von devianten Lebensstilen aufgefasst werden. Sondern als Abwehr einer fundamental anderen Lebensform wie bei „den Zigeunern“ mit ihrer (so das Stereotyp) aus nomadischer Zeit herüberragenden Verachtung von Bodeneigentum, das doch nach Carl Schmitts Nomos-Theorie ‚unsere‘ gesamte Zivilisation erst begründete. Dem Europarat gilt die Volksgruppe der Rroma als größte europäische Minderheit. Erst ein genauerer Blick erhellt, wie komplex das Spiel von Fremd- und Selbstzuschreibungen gerade bei dieser Volksgruppe ist, beginnend bei Namen und Anzahl (siehe unten sowie die Fußnoten 17 und 20 ZIFFERN ÜBERPRÜFEN BITTE; DIES SIND DIE NEUEN). Bei der Schreibweise Rroma schließen wir uns im folgenden einstweilen Stéphane Laederich[1] und der Zürcher „Rromani Fundacija | Rroma-Foundation“ mit dem doppelten „r“ an. Auf das damit verbundene Problem orthographisch vermittelter Fremdheit sei hingewiesen; eine einfache Lösung gibt es auch hierbei nicht.[2]

Die Verdrängungsmechanismen für die Schuld, die keineswegs nur das NS-Regime in eigenem und in besetztem Territorium auf sich geladen hat, die vielmehr eine rund sechshundertjährige Geschichte staatlicher und substaatlicher Abwehrreflexe konstituieren, tragen zum fehlenden Gesamtverständnis wesentlich bei. Für ein solches Verstehen haben sich im Lauf der europäischen Kulturgeschichte drei durchaus verschiedene Annäherungsformen herausgebildet. Da ist erstens die Wissenschaft in ihrem Bemühen um vorurteilsfreie Analyse, die doch selten zum ‚Singen‘ kommt, der Aoide oder dritten der altgriechischen Musen. Sie steht für Kommunikationskompetenz. Da ist zweitens die von Abkürzungsvorgängen gekennzeichnete Medialdarstellung, die dem Zeitungs- und Rundfunkwesen und in fast maximaler Abkürzung vielen der sogenannten ‚sozialen‘ Medien zugrundeliegt. Im wesentlichen nur sie erreicht die Politik. Da ist aber auch drittens der Bereich der Künste: der Roman, das Kino, das Bild, das verknappende, aber eben nicht verkürzende Gedicht. Sind es nicht die Künste, die im historischen Fluß der Vorstellungswelten die wesentlichen Bilder gesetzt haben und durchaus weiterhin zu setzen vermögen? Durch die Kraft der Kunst, mit den Mitteln der Phantasie und der Zuspitzung Narrative aufzunehmen oder neu zu formen.

Gerade erschienen ist der Roman „Andere Akkorde“ von Simone Schönett (Klagenfurt 2018). An ihm läßt sich zeigen, wie komplex das Spiel von Fremd- und Selbstzuschreibungen gerade bei der Volksgruppe der Rroma ist. An ihm läßt sich aber auch zeigen, wie literarische Bildfindungen das der Wissenschaft und in den Medien Sagbare zu transzendieren vermögen.

2. Simone Schönett oder die künstlerische Annäherung an die „unsichtbare Ethnie der Jenischen“

Die Eingangsszene von „Andere Akkorde“ ist makaber. Auf dem römischen Campo dei Fiori wird eine junge Rroma-Mutter mit ihrem Kind Opfer eines Anschlags. Unter dem Denkmal des Freiheitskämpfers Giordano Brunos richten zwei Männer von einem Motorrad aus einen Flammenwerfer auf die beiden. Der Polizeipräsident erklärt den Mordanschlag zum Teil einer Fehde zwischen verfeindeten Rroma-Clans und heizt damit den Antiziganismus[3] der Bevölkerung zusätzlich auf. Tatsächlich – erklärt Schönett – sei in der Rroma-Kultur das Kind heilig; die Verletzung oder gar Tötung eines Kindes stelle damit ein unüberschreitbares Tabu dar. Die Täter müßten notwendig „Gadzos“ (Nicht-Rroma) sein. Beides, der Anschlag und die Reaktion der Behörden bzw. Medien, löst bei der – im Roman mit zwölf Millionen Menschen angegebenen – Rroma-Community Europas nicht nur Entsetzen und stille Wut aus, sondern einen Entschluß. Den zur Gründung eines Staates ohne Territorium. Der Umsetzung dieses Entschlusses gilt der Roman.

Er wird in einer mehr als makabren Schlußdissonanz gipfeln: Was wäre, wenn „die Zigeuner“ selbst…?

Schönetts Roman wurde im Februar 2018 in der Edition Meerauge Klagenfurt/Celovec veröffentlicht. Er nimmt auf seine Weise die Zensusankündigung des Innenministers Matteo Salvini vom 18. Juni 2018 für die in Italien lebenden rund 170.000 Rroma vorweg, die etwa zur Hälfte staatenlos sind. Aber wohin soll ‚man‘ Staatenlose verbringen? Auch im NS-Staat hatte es mit einem Zensus begonnen. Von den 35.000 bis 40.000 damals erfaßten deutschen und österreichischen Sinti und Rroma wurden bis 1945 rund zwei Drittel, ca. 25.000, ermordet bzw. kamen durch Erschöpfung, Hunger oder Krankheit um. Wie viele in anderen Ländern, ist bis heute wissenschaftlich nicht valide erforscht; die Zahlen schwanken um den Faktor zehn. Um ein einziges Beispiel zu nennen (aus einem Land mit der Einwohnerzahl der Stadt Berlin): Alleine für die kroatische Ustascha wird die Rroma-Opferzahl auf 80.000 bis 100.000 geschätzt. (Wie später zu zeigen sein wird, ist Ursache dieser Unklarheit bei den Zahlen die Vielfalt an Kategorien, die in das heute mit dem Begriff Rroma bezeichnete Gesamtphänomen eingehen.)

Und heute? Haben knapp drei Generationen genügt, die über Jahrhunderte tradierten Negativstereotypen zu überwinden? Wie geht es in den kommenden Jahren weiter im Italien Salvinis, im Ungarn Orbáns, im Frankreich Sarkozys? (Der Name „Sarkőzy“ ist nota bene unter ungarischen Rroma verbreitet; der Antiziganismus des damaligen Staatspräsidenten fällt mithin unter die Lessingsche Kategorie Selbsthaß). Wie wird es im weiteren Europa weitergehen?

In Zeiten des Internets den bürgerlichen Namen verborgen zu halten, ist eine Kunst für sich. Simone Schönett ist sie wesentlich geglückt. Nur aus dem Stipendienverzeichnis des österreichischen Bundeskanzleramtes erfährt man, daß es sich bei der 1972 in Villach geborenen Schriftstellerin um Frau Magistra Simone Katholnig-Schönett handelt. Unterbrochen von – wie sie schreibt – „Abwanderungen“ nach Italien (1991-1992), Israel (1994) und Australien / Tasmanien (2000) studierte Simone Schönett Romanistik (abgebrochen) bzw. Pädagogik und Medienkommunikation an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, abgeschlossen 1999 mit einer Diplomarbeit zum Thema Jenische – eine Annäherung an eine unsichtbare Ethnie. Ihre Doktorarbeit blieb offensichtlich unvollendet, lieferte aber – vielleicht wichtiger als ein akademischer Titel – Material für ihren ersten Roman Im Moos. Er erschien 2001 in einer Edition mit dem schönen Titel Verlag Bibliothek der Provinz im oberen Waldviertel; hier auch 2005 die Erzählung Nötig. In der Edition Meerauge Klagenfurt/Celovec erschienen 2010 der Roman re:mondo und 2011 Zala – Drama in sieben Bildern / Drama v sedmih slikah, uraufgeführt durch das Teatr Trotamora in St. Jakob im Rosental am 31.12.2010.[4] Es wurde gemeinsam mit Harald Schwinger verfaßt, dessen alter ego Simon (biographisch zutreffenderweise als Ehemann eingeführt) im Roman Andere Akkorde einer der Deuteragonisten neben der Schriftsteller-Protagonistin Mattea ist. Das Akkordeon von Schönetts Bruder Rudi Katholnig spielt für den Romantitel eine wesentliche Rolle.

Simone Schönett ist Mitbegründerin des Kunst-Kollektivs Wort-Werk und Mitorganisatorin von Die Nacht der schlechten Texte, einer ironischen Plattform für experimentelle Formen von Literatur. Über Kärnten hinaus errang sie Anerkennung u.a. mit dem Wiener Literaturpreis schreiben zwischen den kulturen (2001), dem Österreichischen Dramatikerstipendium (2008, gemeinsam mit Harald Schwinger) und mehreren österreichischen Staatsstipendien für Literatur.

Im Zentrum ihrer Arbeit steht das Thema Fahrende – als Substrat taucht es in allen Arbeiten von Simone Schönett auf, die sich selbst der Volksgruppe der Jenischen zurechnet. Diese ist keine ethnische oder nationale Gruppe im üblichen Minderheitensinn, sondern eine Sprachgemeinschaft, die auf die Solidargemeinschaft der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Fahrenden zurückgeht. Sie umfaßte in Friedenszeiten schätzungsweise fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, verbunden durch das subproletarische Argot[5] des Rotwelsch, einer „Schöpfung der mittelalterlichen Landstraße als dem einzigen Zuhause der großen Gemeinschaft aller durch Gesetz und ständischen Ordnung von bürgerlichem Stadtleben oder ländlicher Seßhaftigkeit Ausgeschlossenen: der fahrenden Leute und der Unehrlichen“ (Siegmund Wolf).[6] Aus dem Liber vagatorum von 1510 hat Robert Jütte[7] die Entstehung eines „gruppenspezifischen Soziolekts“ analysieren können, der „die äusserst heterogene Zusammensetzung des spätmittelalterlichen Fahrenden Volkes“ widerspiegele. Die Herkunft der 295 Rotwelschwörter gibt Jütte wie folgt an: 51,9 % sind deutscher, 22,1%, hebräischer, 6,8% niederländischer, 6,8% lateinischer, 1,7% französischer, 1,4% Rromani und 0,3% spanischer Herkunft. Unsicher oder ungeklärt bleiben 9,8%.[8]

3. Die Übertragung des Begriffs „Zigeuner“ auf die Sozialgruppe der Fahrenden und Unehrlichen

Genetische und sprachgeschichtliche Befunde stehen in der derzeitigen Forschung etwas im Widerspruch hinsichtlich der Frage, wann der Aufbruch der Rroma aus Indien erfolgt sei; eine plausible These lautet etwas vor dem Jahr 1000 u.Z.[9] Die Ankunft im deutschsprachigen Raum über die Balkanroute wird üblicherweise auf 1407 Hildesheim sowie 1417 Buda-Wien-Meißen-Lübeck angesetzt. Ein Jahrhundert später gibt es im Liber vagatorum von 1510 wie dargestellt bereits einen gewissen, aber mit 1,4 % deutlich subdominanten Niederschlag im Rotwelschen.

Entscheidend wird aber etwas ganz Anderes: In der Folgezeit setzt im deutschsprachigen Bereich die Übertragung des Begriffs „Zigeuner“ als Synonym für die Gesamtgruppe der Fahrenden ein, bis hin zum unten zitierten Runderlass Himmlers mit seiner Dreiteilung von „alle seßhaften und nicht seßhaften Zigeuner sowie alle nach Zigeunerart umherziehende Personen“.

Man macht sich aus heutiger Sozialstaatsperspektive selten klar, wie stark der Eigentumsbegriff an Grund und Boden die mittel- und westeuropäischen Gesellschaften konstituierte. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war die Eheerlaubnis von Eigentum abhängig – und damit die Möglichkeit, (eheliche) „Kinder“ statt (außerehelicher) „Kegel“ zu bekommen (vgl. Jenůfa – Její pastorkyňa von Leoš Janáček). Gesellschaftsteile, deren Mobilität sich dem notwendig sedentären Bodeneigentum verweigerte, mussten daher gewissermaßen zwangsläufig als Generalangriff auf die Gesellschaftsgrundlage wahrgenommen werden. Dementsprechend wurden sie fundamentaldiskriminiert. Bei Hegel bildet Privateigentum die Voraussetzung von Freiheit. Bei Carl Schmitt wird die gesamte Zivilisation auf Bodeneigentum zurückgeführt: „Das griechische Wort für die erste, alle folgenden Maßstäbe begründende Messung, für die erste Landnahme als die erste Raumteilung und -Einteilung, für die Ur-Teilung und Ur-Verteilung ist: Nomos“.[10]

Der romantische Protest der Künstler gegen eine solche Bodenfixierung erfolgte im Namen der „Bohémiens“, dem französischen Ausdruck für vorgeblich aus Böhmen gekommene Rroma. Großer Beliebtheit im Bürgertum des 19. Jahrhunderts erfreuten sich Zigeunermusik („Die Liebe von Zigeunern stammt“ bei Georges Bizet; „Lustig ist das Zigeunerleben, / fario, fariofum / Brauch’n dem Kaiser kein Zins zu geben…“ im Volkslied aus Schlesien, dem Elsaß oder Tirol) und Zigeuneroperetten („Ja – mein idealer Lebenszweck / ist Borstenvieh, ist Schweinespeck“ heißt es Zigeunerbaron von Johann Strauß und „Ja, das alles, auf Ehr`, / das kann ich und noch mehr!“). Friedrich Nietzsche spielte das mediterrane Flair von Bizets Zigeuneroper Carmen gegen die Musik Richard Wagners aus.

Im radikalen Widerspruch zur Privilegierung von Bodeneigentum ist – über das Paradigma des Kosmopolitismus – die gegenwärtige wirtschaftliche Funktionselite der Idee einer Ortlosigkeit engstens verpflichtet. Dies wiederum macht einen gewichtigen Teil des von Populisten à la Salvini aufgegriffenen Antielitenprotestes bürgerlicher Wählerschaften aus. Vom Eponym des Subproletariats ist ‚zigeunern‘ zum Inbegriff ultrabourgeoisen Weltverständnisses geworden und der „Fahrende“ mit seinen spezifischen Frei- und Unabhängigkeiten unversehens an die Gesellschaftsspitze gewandert. Sein Argot ist nicht länger das Rotwelsche, sondern ein spezifisches Schein-Englisch. Das Brussels Pidgin ist von phonetischen, syntaktischen und semantischen Lokalbezügen vollständig befreit. Sein Verkehrsmittel ist nicht länger das Kraftfahrzeug, mit der speziell die bundesdeutsche Industrie das – gemessen am verfügbaren Einkommen nur scheinbar überdimensionierte – „Fahren“ in die sedentäre Lebensweise hineinfügen konnte, sondern der Metropolenshuttle der Billig-Airlines (der in Andere Akkorde eine entscheidende Rolle spielt). Gleichzeitig waren 1,03 Millionen Reisemobile und Wohnwagen per 1. Januar 2016 in Deutschland registriert; mit knapp acht Milliarden Euro liegt der Umsatz der deutschen Caravaning-Industrie – die das Umherziehen „nach Zigeunerart“ ermöglicht – in der Größenordnung der öffentlich geförderten Kultur, die ihrerseits ein „Fahren“ im Geist ermöglicht. Die weltweiten Tourismuseinnahmen haben die Billionengrenze (in Euro, im Amerikanischen also trillions) seit 2012 überschritten; die Freude an der temporären Absenz von der Heimat bestimmt die Durchschnittskohorten von immer mehr Gesellschaften weltweit.

Die Landstraßen werden aber keineswegs nur durch Touristen immer voller. Die Ernte auf Deutschlands Spargelfeldern hängt vom Einsatz fleiß- und handbegabter Ausländer ab; das polnische Sozialwesen sowie Teile der polnischen Wirtschaft werden nur durch den Einsatz illegaler ukrainischer Wanderarbeiterinnen und -arbeiter aufrechtgehalten. Je mehr jedoch temporäre Migration über alle Sprach- und ethnischen Grenzen hinweg zu einer Grundvoraussetzung des Spätkapitalismus geworden ist, umso stärker gewinnen die Vorbehalte gegen Migrierende und damit die seit der frühen Neuzeit gepflegten Stereotype wider die „Zigeuner“ politisch an Boden. Diesen Phänomenen gilt der künstlerische Einsatz von Simone Schönett.

Der in ihrer Diplomarbeit verwendete Begriff „Ethnie“ für die Jenischen ist wie dargestellt historisch problematisch, da es sich eher um eine Sprach- und Solidargemeinschaft der Fahrenden handelt.[11] Mangels internationaler Vertretungsmöglichkeiten ist jedoch die geradezu poetisch benannte Schweizerische Radgenossenschaft der Landstraße, die 1975 gegründete, seit 1985 vom Bund geförderte und 2016 von der Eidgenossenschaft als Volksgruppe amtlich anerkannte (allerdings wiederum nicht von den _Sinti selbst) Vertretung der Schweizer Jenischen und Sinti der Internationalen Rroma-Union beigetreten. Sie hat die Sprachverwirrung des Volksmunds aufgegriffen und für sich ins Positive gewendet.

Die Protagonistin Mattea des Romans ist, wie die Schriftstellerin, eine Jenische und fühlt sich als Teil der europäischen Rroma-Community. Auf der subjektiven Ebene eines sozialen Zugehörigkeitsgefühls (nicht auf der vorgeblich objektiveren Ebene einer Ethnie) stellt die Protagonistin damit Kontinuität der „mittelalterlichen Landstraße als dem einzigen Zuhause der großen Gemeinschaft“ (Wolf) ins Heute her. Für diese stand seit dem 16. Jahrhundert wesentlich der Begriff „Zigeuner“.

4. „Es ist […] bislang nicht gelungen, einen politisch korrekten Ersatz für den umfassenden, sowohl ethnografischen wie soziografischen ‚Zigeuner‘-Begriff zu finden.“ (Thomas Meier)

Der Begriff „Zigeuner“ ist ein Exonym (wie im übrigen auch der Begriff „Sinti“, der von Jenischen stammt, während die Sinti selbst sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts als „Kale“ bezeichneten).  Solche Fremdbezeichnungen sind gängig.  Deutsche beispielsweise werden – je nach geschichtlich fassbarer Dominanz einzelner Stämme – auf dem Balkan als Sachsen, in Italien als Teutonen, in Frankreich als Alemannen, in Osteuropa als Stumme (Nemci) bezeichnet. Die einzigen, die im internationalen Verkehr tatsächlich „deutsch“ heißen, nämlich „Dutch“, sind die Niederländer. Umgekehrt kann ein Exonym auch zum Endonym werden – „welsch“ heißt im Deutschen der nichtdeutsche Sprachraum, traditionell absolvierten Deutschschweizer Mädchen ein Welschlandjahr in der französischen Schweiz. Der Kanton Wallis hat „welsch“ als Eigenbezeichnung aufgegriffen. Im britischen Cymru ist „Wales“ dagegen das altgermanisch-amtliche Exonym geblieben. Das klassische Beispiel ist Frankreich, dessen Bevölkerung bei La Révolution zu 85 % den Dialekt der Seine-Bucht gar nicht beherrschte. Sie musste erst in einem zweihundertjährigen Prozeß ‚französisiert‘ werden[12] – unter dem Namen eines germanischen Volksstamms aus dem heutigen Belgien.

Der – zuletzt 2010 von der Deutschen Bischofskonferenz fallengelassene – Begriff „Zigeuner“ stammt nach Speck[13] vom neugriechischen Ἀθίγγανοι (Athínganoi – „Unberührende“). Mit ihm bezeichnete das oströmische (byzantinische) Kaiserreich nach 1000 u.Z. – in bislang ungeklärter Übertragung von einer häretischen Sekte auf eine Volksgruppe – die von Osten gekommenen, dann mehrheitlich sedentären Rroma-Gruppen. Durch die Literatur zieht sich dabei ein klassischer Fall von Fehlinterpretation. Die für ihr Zauberwesen verrufene Sekte der Ἀθίγγανοι des 6. bis 9. Jahrhunderts (von der her die Übertragung zum heutigen „ţigani“, „Cikán“, „Tsigane“, „Zigeuner“, „Zingari“ etc. erfolgte) zeichnete sich unter anderem dadurch aus, daß sie „keinen Menschen [aktiv] berührte“ und keine Speisen von anderen direkt annahm.[14] Die Befolgung solcher Reinheitsvorschriften auch durch die Rroma wurde, wohl aufgrund ihrer indischen Herkunft, in eins gesetzt mit der dortigen Kaste der (passiv) Unberührbaren. Tatsächlich müsste eher von (aktiv) „Unberührenden“ die Rede sein.

Im englischen Sprachraum findet nach wie vor der ebenfalls aus Ostrom tradierte Begriff „Gypsy“ Verwendung (Ägypter, daher auch „Gitan“, „Jifti“ etc.); dementsprechend ergreift der Europarat Maßnahmen gegen „Anti-Gypsyism“. Im amtlichen deutschen Sprachraum dagegen hat sich die Forderung der Interessengruppen auf dem Ersten Rroma-Kongreß 1971 London durchgesetzt, das Exonym „Sinti“ gekoppelt mit dem Endonym „Rroma“ und als Oberbegriff das Endonym „Rroma“ zu verwenden – von Sprachreinigung wird Gedankenreinigung erhofft.

Gerne übersehen dabei wird, dass „Rom“ Mann und insbesondere Ehemann bedeutet, parallel zu „Rromni“ Frau und insbesondere Ehefrau. „Rrom“ bzw. im Plural „Rroma“ ist kein generisches Maskulinum. Leicht überspitzt formuliert: Als Synonym für eine Volksgruppe den Begriff ‚Club der Ehemänner‘ verwenden zu wollen ist problematisch. Es ist daher kein Wunder, dass insbesondere Rroma-Frauen mit dem Begriff nicht immer glücklich sind, wie ja auch patriarchalische Strukturen etwa in der Ost-Slowakei und die Komplexität traditionaler Gesellschaftsformen kaum öffentlich diskutiert werden. Mit Stéphane Laederich (2015), dem Direktor der Rroma Foundation Zürich, zu sprechen: „Mensch, eine Übersetzung, die man im Kontext von Rroma oft hört, heisst auf Rromanes genauso wie auf Sanskrit Manuš, der Name, den sich die in Frankreich nach 1870 eingereisten Sinti als Gruppenbezeichnung gaben: Manouches.“

Thomas Meier weist auf die Vielzahl der mit „Zigeuner“ gemeinten Gruppen hin, unter denen die Rroma nur eine Minderheit darstellen: „Es ist nicht ganz einfach bzw. bislang nicht gelungen, einen politisch korrekten Ersatz für den umfassenden, sowohl ethnografischen wie soziografischen ‚Zigeuner‘-Begriff zu finden, der alle je als ‚Zigeuner‘ betrachteten Gruppen mit einschliesst.“[15]

Valide Zahlen liegen daher nur bedingt vor. Sind in der Türkei nun 0,05% der Bevölkerung Rroma bzw. 40.000 Menschen, wie die Regierung angibt, oder gibt es dort 2,75 Millionen Rroma, wie die Interessengruppen behaupten? Der Unterschied ist eins zu siebzig.[16] Pan-Pfeil-Videsott geben in der jüngsten Ausgabe des Handbuch der europäischen Volksgruppen[17] für die Volksgruppe der Roma/Sinti einschl. Aschkali, Balkan-Ägypter, Gipsies und Travellers im Vereinigten Königsreich sowie Domani im Europarats-Raum, also einschl. Rußland (europäischer Teil), Türkei etc., die Zahl von 3.965.668 Rroma an.[18] Von den rund 750 Millionen Menschen des Europaratsraums sprechen 710 Millionen eine der 36 Nationalsprachen, 40 Millionen eine der 60 staatslosen Sprachen Europas als Primärsprache. Nach Katalanisch (10 Millionen) und Tatisch (5,6 Millionen)[19] nimmt Rromanes Platz 3 unter den staatenlosen Sprachen ein, ist also nicht Europas größte Minderheit. Mit einer Verteilung auf 36 Staaten nimmt sie dagegen Platz 1 bei der Verbreitung ein. Diese rund 4 Millionen Rroma – wohlgemerkt das Doppelte der vom Europarat als „self declared“ festgehaltenen Anzahl – stellen nur ein Drittel der im Roman genannten, die lediglich geschätzten Zahlen des Europarates[20] übernehmenden 12 Millionen dar. Dabei ist immer zu bedenken, dass historisch wie heute der überwiegende Teil der Rroma sedentär ist und nur zu geringen Teilen unter die Kategorie der Heimatlosen-Vaganten-Fahrenden fällt (auf französisch „gens du voyage“), für die im deutschen Sprachraum wie ausgeführt schon früh eine Übertragung des Begriffes „Zigeuner“ stattgefunden hatte. Nimmt man den Sinngehalt dieses älteren Begriffes und löst sich von einer ethnischen und linguistischen Perspektive, ergibt sich eine gewisse Plausibilität für die 12 Millionen „Rroma“ des Romans, die an dessen Höhepunkt Brüssel belagern werden. Wenn man jedoch auf den (deutschsprachigen) Sinngehalt rekurriert, dann fallen die Sedentären unter den Rroma – und dies ist die Mehrheit – gerade nicht darunter. Zu Ende gedacht, wären die Rroma in Schönetts Siège de Bruxelles mithin eine – allerdings namengebende – Minderheit in der Minderheit.

5. „Die Vergangenheit als unabstreifbares Unterkleid“ (S. 28) – Spuren der Geschichte in Deutschland, der Schweiz, Österreich und den Donaufürstentümern

Schönetts alles auslösender Anschlag in der Stadt „Roma“ [Rroma?] mag fiktiv sein. In Heidelberg hatte 1973 ein realer Todesfall – ein Polizist erschoss den Heidelberger Sinto Anton Lehmann – zur Politisierung und zur Artikulation der Volksgruppe gegen die rassistischen Denkmuster geführt, die auch nach 1945 fortlebten. Der NS-„Zigeunerforscher“ Robert Ritter war einer der Hauptverantwortlichen für Himmlers Runderlass vom 08.12.1938 zur „Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen der Rasse heraus“.[21] Im Prozeß gegen ihn erklärte 1950 der Frankfurter Oberstaatsanwalt Kosterlitz: „[Es] erhebt sich die Hauptfrage, ob und inwieweit überhaupt den Darstellungen der Zeugen zu glauben ist. Es handelt sich um die grundsätzliche Frage, ob und inwieweit Aussagen von Zigeunern zur Grundlage richterlicher Überzeugungen gemacht werden können.“[22] 1956 verhinderte der Bundesgerichtshof die Entschädigung von verfolgten Sinti und Rroma mit dem Urteil: „Zigeuner neigen zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien. Es fehlen ihnen vielfach die Antriebe zur Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist.“

Im gleichen Jahr 1956 gründeten die Brüder Oskar und Vinzenz Rose den Verband rassisch Verfolger nichtjüdischen Glaubens, 1971 Vinzenz Rose das Zentral-Komitees der Sinti West-Deutschlands. Nach dem Tod von Anton Lehmann 1973 organisierte Vinzenz Rose die erste öffentliche Demonstration gegen die Diskriminierung von Sinti und Rroma; rund einhundert Angehörige der Minderheit zogen mit Schildern wie „Sind wir Zigeuner vogelfrei?“ oder „Nicht Rache: Gerechtigkeit“ durch Heidelberg. 1982 gründete Oskars Neffe Romani Rose den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Diesem demgegenüber erkannte noch im gleichen Jahr Bundeskanzler Helmut Schmidt die nationalsozialistischen Verbrechen an den Sinti und Rroma als Völkermord an. Seit 1997 ist der Zentralrat mit Unterstützung der Bundesregierung Träger des Heidelberger Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma. 2012 wurde im Beisein von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Joachim Gauck in Berlin das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas eingeweiht. 2018 setzte der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer durch einen Staatsvertrag mit dem bayerischen Landesverband der Deutschen Sinti und Roma einen vorläufigen Schlusspunkt hinter das europaweite NS-Verbrechen des Porajmos (im Vlax Rromanes „Auseinanderreißen“).

Diese Terminologie wurde 1993 von Ian Hancock aufgrund von Gesprächen mit Überlebenden vorgeschlagen. In manchen Dialekten bedeutet Porajmos allerdings auch „Vergewaltigung“, weshalb der Terminus teilweise abgelehnt wird und stattdessen entweder Pharrajimos (Zerstörung) oder Samudaripen (Massenmord) vorgeschlagen wurden. Der Linguist Lev Tcherenkov plädiert vehement für den Begriff Holocaust (Brandopfer).[23] Schönett ihrerseits nutzt überraschenderweise den Terminus Porajamos mit zusätzlichem [a] (S. 77).

Weitreichende Spuren bis in die unmittelbare Gegenwart hinterließen eine lange Kette amtlicher Diskriminierungen in der Schweiz[24] von der ersten Verfügung gegen Zigeuner in Luzern 1471 bis zur Aufhebung des allgemeinen Einreiseverbotes für ausländische „Zigeuner“ erst 1972. In Österreich[25] waren es unter anderem der Landesverweis von 1689 („Alle im Land herumstreifenden Zigeuner samt ihren Frauen und Kindern und anderem Gesindel seien des Landes zu verweisen. Männer, die in flagranti erwischt würden und Frauen, die ohne ihren richtigen Ehemann angetroffen würden, sollten ohne Prozeß und Urteil sofort mit dem Schwert hingerichtet werden.“). Es waren die Ausrottungsverordnung Karl VI. von 1720, das Verdikt von Maria Theresia von 1758, Städte müssten „zigeunerfrei“ bleiben, die Anordnung von Joseph II., die Benutzung der Rromanes-Sprache sei mit 24 Stockhieben zu bestrafen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde die Praxis geübt, den „Zigeunern“ die Kinder wegzunehmen und zur Adoption freizugeben (im Roman S. 89); ganz wie der australische Staat bei den Aborigines.

Mit Abstand am besten war die Situation der Rroma im Zarenreich und im Kern des Osmanischen Reiches;[26] mit Abstand am schlimmsten ihre Situation jenseits der Südostgrenze des Habsburger Reiches in den beiden Donaufürstentümern Walachei und Moldau, dem späteren Rumänien. Hier waren rund 7 % der Bevölkerung bzw. gegen eine Viertelmillion Menschen gesetzlich regulierte Rroma-Sklaven. Die vătraşi (Seßhafte) and lăieşi (nomadisch als Kupfer-, Eisen- und Hufschmiede, Lautenspieler, Löffelschnitzer und Bärenhändler Tätige) waren unterteilt in die drei Gruppen der ţigani domneşti (wörtlich: Zigeuner des Fürsten),[27] ţigani mănăstireşti (Klosterzigeuner) und ţigani boiereşti (Adelszigeuner). Erst in einem längeren Prozeß von 1843–1856 erfolgte die Slobuzenja, die Freisetzung der „sprachbegabten Arbeitstiere“ (Cartarescu), allerdings wie im Falle der amerikanischen Südstaaten-Sklaven ohne Landübertragung: „Unvorstellbar, welch ein menschliches Desaster diese ‚Sklavenbefreiung‘ ohne jegliche logistische und psychologische Vorbereitung ausgelöst hat. Hunderttausende Zigeuner waren plötzlich frei, Hungers zu sterben. Ohne Geld, ohne Kleider, ohne Lebensunterhalt.“ (Mircea Cartarescu).[28] Die Sklavenbefreiung in den Donaufürstentümern führte zu erneuten Wanderungen, diesmal von „Roma“, in die „Sinti“-Gebiete des habsburgischen Mitteleuropas und nach Westeuropa sowie in die beiden Amerikas.

1933 schlug eine „Zigeunerkonferenz“ im burgenländischen, erst 1921 zu Österreich gekommenen Oberwart die Deportation der ca. 12.000, mehrheitlich im Burgenland lebenden österreichischen „Zigeuner“ auf wenig besiedelte Inseln im Stillen Ozean vor; ganz wie im Madagaskar-Plan des Reichssicherheitshauptamtes und des Auswärtigen Amtes von 1940 zur Umsiedelung von vier Millionen europäischer Juden. Im Namen einer „Bajuwarischen Befreiungsarmee“ verübte der österreichische Terrorist Franz Fuchs von 1993 bis 1997 rassistisch und völkisch motivierte Anschläge durch zahlreiche Brief- und Rohrbomben, darunter am 4. Februar 1995 den Mord an vier Rroma durch eine Sprengfalle in eben diesem Oberwart. Mit der in Schönetts Roman zitierten Botschaft „Roma zurück nach Indien“.[29]

Die Reaktionen auf den Anschlag von Oberwart in Medien und Politik reflektierten unter anderem Stefan Horvath und Elfriede Jelinek (Stecken, Stab und Stangl 1998). In diese Tradition der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Antiziganismus[30] reiht sich Simone Schönett mit ihrem Roman Andere Akkorde ein.

6. Ungeheuer – im doppelten Wortsinn – ist der Stoff von „Andere Akkorde“

Ungeheuer – im doppelten Wortsinn – ist mithin die Komplexität des Stoffes, den Simone Schönett sich vorgenommen hat. In Umrissen ist jedem österreichischen Maturanten, schweizerischen Maturanden oder deutschen Abiturienten das oben skizzierte Schicksal der „Zigeuner“ in 600 Jahren Konvivenz mit den sedentären Bevölkerungsschichten Mitteleuropas einigermaßen gewärtig (oder sollte es zumindest sein). An konkreten Kenntnissen mangelt es überwiegend. Die fatale Dimension dieser 600 Jahre, des Rroma-Holocaust und vor allem der Gegenwart ist im allgemeinen Bewußtsein ausgeblendet. Wie geht Simone Schönett in dieser Ausgangssituation vor?

Zunächst mit dem Stilmittel der Atemlosigkeit. Fast jeder Satz erhält einen neuen Zeilenbeginn. Drei, fünf Sätze formen einen eigenen Absatz. Hypotaxen werden allenfalls auf eine erste Stufe geführt; der Text bildet eine wilde Abfolge von situativen Parataxen. Gebundenes Denken wird dadurch unmöglich. Eine sprachlich noch größere Distanz von der betulichen Innigkeit eines Thomas Mann („Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode.“) erscheint kaum möglich.

Hier der Schluss von Kapitel „EINS“ (S. 12 f.) in der Perspektive der erschöpft auf dem Campo dei Fiori zusammengebrochenen Rroma-Mutter mit ihrem Kind, formuliert im Staccato-Präsens:

Das Knattern des Motorrads nimmt sie erst wahr, als es vor ihr stehen bleibt.
Der Mann hinter dem Fahrer hat einen merkwürdigen Rucksack umgeschnallt.

Der Fahrer gestikuliert wütend.

Die Visiere beider Helme sind zugezogen.

Was wollen die von ihr?

Warum bleiben die so knapp vor ihr stehen?

Sie wollen nicht weiterfahren, aber absteigen wollen sie auch nicht, keiner der beiden; sie versteht nicht, was das soll.

Was zieht der Beifahrer da unter der Jacke hervor? Etwas, das wie ein Schlauch aussieht. Wozu brauchen die den? Die sind doch nicht von der Straßenreinigung.

Wozu dieser Schlauch, der einer Lanze gleicht, einer jener Lanzen, die sie von Tankstellen zum Abdampfen des Autos kennt?

Weg, sofort weg, schreit alles in ihr, allein sie kann nicht, kann weder schreien noch sich bewegen, bleibt auf den Кnien, wie am Campo festgenagelt.

Der stechende Benzingestank liegt schon länger in der Luft. Doch was ist das für ein Geruch, der ihr jetzt in die Nase steigt? Wie Diesel oder Heizöl. Auch was gerade über ihr Haar und das Kleid und das Ваbу läuft, riecht so schwer und ist klebrig. Und heiß ist das, was die Lanze über ihr auswirft, diese gleißenden Strahlen, die werden doch nicht? Das sind Flammen, die da kommen –und ihr Kind?

Es ist gerade kein innerer Monolog. Es ist eine schnelle Abfolge von Einzelbildern, Einzelgeräuschen und Einzelgerüchen, deren Wahrnehmung und vor allem deren nacheilendes Verständnis dokumentiert werden. Der Leser ist hineingeschleudert in die Wahrnehmungsabfolge und die Verstehensunmöglichkeit der Protagonistin.[31]

Der Mordanschlag ist datiert auf den „7. Juli 2012“ (S. 59), an seinem Jahrestag, am „7. Juli 2013“ (S. 97), wird der Marsch auf Brüssel stattfinden; eines der zahllosen ‚realistisierenden‘ Elemente des Romans. Dessen unzweifelhafte Stärke liegt in seiner Spiegelung der Smartphone-Generation. Genauer: deren Informationsflutung mit dem Unvermögen, Narrativ und Fakten in Stringenz zu überführen, mit dem Resultat einer sehr spezifischen Armut. Künstlerisch reich ist der Roman wiederum beispielsweise in der Performance des Kapitel ZEHN (S. 104–107). Frei nach dem Diktum „Die Revanche einer Männerwelt, die die eigene Schuld zu rächen sich erkühnt“ (Karl Kraus bei der Wiener Privataufführung 1905 von Wedekinds Büchse der Pandora [Lulu]) lässt sich die Protagonistin Mattea in einem Katarakt der Diffamierungen vor laufender Kamera schlagen und stellt anschließend die Performance per Youtube ins Netz. Hier ebenso wie im makabren Eingangsbild und im noch weit makrabren Schlussbild leistet Simone Schönett, was nackte Historiographie nicht vermag – Bilder zu schaffen, die Sachverhalte ins Transkognitive transportieren. Der Roman ist – nicht zuletzt mit dem Jenischen-‚Teufel‘ und am Ende einzigem Realisten Senko (u.a. S. 144) sowie der prägnant raffenden Fokussierung auf wenige Zentralmomente des Geschehens – als Kino-Vorlage angelegt; dies aber wäre wieder eine ganz eigene Herausforderung für Komponist und Regisseur.

Das Stilmittel einer schnellen Abfolge von Einzelbildern passt bestens für eine existentielle Situation (und für den Höhepunkt der Musikschilderung mit Also sprach Zarathustra S. 197 f.). Als Dynamisierung um der Dynamisierung willen wird das Stilmittel problematisch in Kapitel VIER (S. 39f.), der nachholenden Erinnerung des selbsternannten Rroma-Retters und späteren Anführer Leo an einen Kneipenabend in Hamburg „vor bald vier Jahren“ (S. 39) „nach der ersten Internationalen Antiziganismus-Konferenz“ (S. 40) gemeinsam mit den drei weiteren Hauptprotagonisten des Romans: der Schriftstellerin Mattea, der DJ Nela und dem Musiker Pal.

In Kapitel VIER wird auf wenigen Seiten die gesamte Geschichte der Rroma, Sinti und Fahrenden, von Migration und perennierender Verfolgung und von Mißtrauen auch untereinander, in – dem Alkohol geschuldet – wirren und nicht immer historisch zutreffenden[32] Satzsplittern als Stichomythie dargeboten. Während aber in der antiken Tragödie der wissende Chor Zeile für Zeile dem fragenden Charakter Antwort bei seiner Wahrheitssuche in einer Art Sprachmusik bot, unternimmt Simone Schönett in der Hamburger Schlüsselszene den Versuch, gleich zwei Vorwärtsstrategien entwerfen zu lassen. Ohne dabei – dem prosaischen Inhalt geschuldet – gleich ihrem Vorbild Jellinek die Sprache zu Musik transzendieren lassen zu können.

Die erste, ökonomische Vorwärtsstrategie greift grüne und kirchliche Strategien der Entwicklungshilfe auf. Ihre erfolgreiche Umsetzung bietet später eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der Brüsseler Aktion, wenn zwölf Millionen Menschen versorgt werden müssen. Für den Leser bleibt freilich unbefriedigend, dass diese Fünfjahresstrategie später nur als fait accompli dargestellt wird. Eigentlich ist sie für die Grundfragestellung des Romans und für die neue Situierung von Mobilität-Migration in Europa unterhalb der Ebene von Konzernen und landverknüpftem Eigentum so zentral, dass sie fast Stoff für ein zweites Buch bieten würde:

Es müsse doch neue Perspektiven geben, solche, die auf ihre wirklichen Lebenswelten zielen.

»Die Verbindung zwischen Altem und Neuem. Da müsste man ansetzen.«

»An den alten Vorstellungswelten ist doch vieles aktueller denn je.«

»Stichwort Mobilität und, wie heißt das, Ich-AG?«

»Was heute als neue Errungenschaft gilt, haben unsere Ahnen schon vor Jahrhunderten gelebt.«

»Seit jeher.«

»Wir sind für die heutigen Anforderungen doch bestens gerüstet.«

»Allein, es fehlt der Weitblick.«

»Die Vision.«

»Europas größte Minderheit wird seine schwächsten Angehörigen eigenständig von den Fesseln der Armut befreien.«

»Doch wie?«

Womöglich liegt es an der Hafenluft, an dem beständigen Ankommen und Auslaufen draußen.

Oder am Bier.

Hier am Tisch werden die Gedanken immer schneller, Ideen und Sätze werden einander zugeworfen wie Taue, an denen sie langsam hochklettern.

»Es könnte neue kleine Dienstleistungen auf der Straße geben.«

»Offerte wie Ein-Minuten-Massagen … «

»Die einen machen nur Kopfhaut, die anderen nur Hände.«

»Für jedes, na ja, fast jedes Körperteil gibt es Masseure und Masseurinnen, die reichlich Kundschaft finden werden.«

»Zudem wird Kurzyoga angeboten: Die Übungen dauern so an die drei Minuten und man zahlt so viel, wie es einem wert ist.“

„Die Yoga-Menschen – fast nur junge Frauen – werden ein Bombengeschäft machen …“

»… auch die älteren Frauen, die den Passanten Sockenschnellstrickdienste anbieten …“

»die Männer, die Reißverschlüsse reparieren oder Fahrradschläuche flicken.«

„Es wird mobile Schachpartner geben, und selbst die werden ausgebucht sein.“

»Zu diesen neuen Gewerbetreibenden werden sich auch die ersten mobilen Roma-Garküchen gesellen.«

»Die Konstruktionen dieser Küchen werden abenteuerlich sein …“

»… manche sind nicht mehr als ein Tischchen, ein kleiner Kocher und zwei Тöрfе …“

» … andere haben praktische Konstruktionen aus Edelstahl.«

»Aber allen ist gemeinsam, dass sie die Kochstellen mit Solarstrom betreiben.“

»Es wird Akkus geben, die man notfalls anschließen kann.«

»Man wird stolz sein auf den sauberen Strom. «

»Die Teller und Schüsseln und das Besteck … «

» … das wird ein Wegwerfgeschirr aus einem ganz neuen Schilfprodukt sein … «

» … das sich wie dünnes Holz anfühlen und extrem schnell verrotten wird. «

Keiner am Tisch ahnt, wie bald es all das wirklich geben wird. Noch sind ihre Ideen wie Seemannsgarn. Noch suchen sie nach Möglichkeiten, das tief verwurzelte Misstrauen zu zerstreuen. Auch das der Roma untereinander.

Nur durch einen Absatz getrennt, schlägt Simone Schönett übergangslos das Zentralthema ihres Buches an und geht von der Stichomythie graduierlich zur Antilabe über, dem schwirrenden Sprecherwechsel innerhalb der Zeilen:

Pal bringt den Begriff der großen Kumpania ins Spiel.

Diese alte, fast vergessene Organisationsform.

Selbst sie am Tisch wissen wenig davon.

Ein Zusammenschluss verschiedener Roma-Gruppen.

Für eine gewisse Zeit, zu einem bestimmten Zweck.

Eine Zusammenarbeit, trotz aller Verschiedenheit.

Das sei etwas Altes, von ganz früher, aber womöglich ein vernünftiges Werkzeug, um voranzukommen.

»Daran könnte man anknüpfen. «

»Eine neue Kumpania.«

Wie ihre Sätze immer schneller werden.

» … alle Gruppierungen … «

» … alle zusammen … «

» … in ganz Europa … «

» … hochgerechnet … «

»Das waren dann«, stellt Leo fest, »alles in allem gut zwölf Millionen Menschen.«

»Eine recht ordentliche Streitkraft, findet ihr nicht?«, meint Nela.

»Genug für einen eigenen Staat! «
Ein Roma-Staat, was für eine Vorstellung!

7. Ist eine Personalkörperschaft ohne ausschließliches Territorium denkbar?

Der entscheidende Punkt des hier in einer Hamburger Hafenkneipe ausgebrüteten Staatsmodells für die europäischen Rroma (mit dem Simone Schönett nicht weiter dokumentierte Überlegungen von Rroma-Konferenzen aufgreift) ist das Nicht-Verlangen nach einem eigenen Territorium.

Denn was ist ein Staat? Anfassen kann man ihn nicht, ‚begreifen‘ kann man ihn nur im Kopf. Georg Jellinek (1900) mit seiner Dreiheit von Staatsvolk – Staatsgebiet – Staatsgewalt schildert Phänomene, liefert aber keine Essenz. Sein „Staatsvolk“ wäre in heutiger Terminologie ohnehin eher eine Staatsvolks-Narrativkonstruktion mit Inklusions- und vor allem Exklusionsmechanismen. Bei Vogt-Fritzsche-Meißelbach (2016) heißt es daher: „Staaten haben im physischen Sinn keine materielle Realität. Es gibt auch keine allgemein akzeptierte Staatsdefinition, nur hilfsweise wird (noch immer) auf [..] Jellinek zurückgegriffen. Faktisch handelt es sich um eine abstrakt-immaterielle, solidarische Rechtsgemeinschaft. Die jeweilige Rechtsgemeinschaft ist eine im geistigen Raum zu verortende interpersonale Konvention und letztlich abhängig davon, ob und inwieweit die Bevölkerung des betreffenden Territoriums deren Normen entweder notgedrungen akzeptiert oder als handlungsleitende internalisiert und intergenerativ weitergibt.“.[33] Die Dreiheit von Staatsvolk – Staatsgebiet – Staatsgewalt ist eine historisch bedingte und nicht notwendigerweise abschließende Möglichkeit der Staatskonstitution.

Territorialkonflikte gehören auch in Europa keineswegs der Vergangenheit an. Die Republik Armenien erkennt ihre Westgrenze mit der Türkischen Republik nicht an. Die Rußländische Föderation hat „eingefrorene“ Territorialkonflikte zu einem ihrer zentralen außenpolitischen Mittel gemacht (Abchasien 1992, Südossetien 2008, Krim 2014, Ostukraine seit 2014). Umgekehrt ist das Kosovo nicht allgemein anerkannt. Ungarn vergibt die Staatsangehörigkeit an die ungarischsprachigen Minderheiten auf dem Vor-Trianon-Gebiet der heutigen Nachbarstaaten Slowakei, Rumänien, Serbien. In Katalonien und Schottland sitzen starke Sezessionisten. Im Kern all dieser Konflikte geht es stets um die Diskrepanz zwischen einem national verfassten Staat und seinen autochthonen Minderheiten, vereinfacht gesagt um Positionen rund um die postnapoleonische Staatenarrondierung bis zum Wiener Kongress 1814/15, rund um den Völkerfrühling 1848 bzw. um die Nachholung der ersteren und Einlösung des letzteren durch Wilsons 14 Punkte Ende 1918. Durch die vorschnelle Anerkennung von Slowenien und Kroatien mit den folgenden Massakern (u.a. im bosnischen Srebrenica 1995) katapultierte sich die bis dato ungelöste Minderheitenfrage in die politische Öffentlichkeit Europas zurück. Dies führte noch in den 90er Jahren zum Durchbruch bei den beiden, jahrzehntelang in der Schwebe gelassenen Minderheitskonventionen des Europarates Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten[34] und Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen.[35] Die von Pan-Pfeil-Videsott gelisteten 60 staatslosen Sprachen Europas bleiben trotz dieser, das Staatenverständnis nicht tangierenden und insofern tendenziell an der Oberfläche bleibenden Konventionen ein offenes Problem.

Während aus Indien seit Indira Ghandi unverbindliche Sirenentöne an die Rroma als „children of India“ ertönen (und der Generalsekretär der World Roma Organisation sich 2016 in diesem Kontext bereit erklärt hat, die Bezeichnung der Volksgruppe von „Rroma“ zu „Hindu“ zu wechseln), [36] hat der Europarat im gleichen Jahr 2016 für die Rroma einen eigenen Thematic Action Plan on the Inclusion of Roma and Travellers 2016–2019 verabschiedet.[37] Auf dessen Grundlage wurde 2017 in Berlin 2017 im Zusammenwirken von Europarat und Bundesregierung das European Roma Institute for Arts and Culture eröffnet, geleitet von Tímea Junghaus (*1975), der nach eigenen Angaben ersten ungarischen Rromni mit einer Promotion in Kunstgeschichte. Der Europaratsplan basiert auf dem Romani Nation Building Action Plan,[38] verabschiedet vom 7. World Romani Congress Zagreb 2008 der International Romani Union mit Sitz in Prag,[39] die ihrerseits mit der World Roma Organisation mit Sitz in Belgrad zerstritten ist. Aber was ist mit den anderen 59 von Pan-Pfeil-Videsott gelisteten staatslosen Sprachen Europas? Den Sorben beispielsweise wäre 1918 durch tschechische Unterstützung die Gründung eines Sorbenstaates beinahe geglückt; aber wäre das tatsächlich für alle Beteiligten eine politisch nachhaltige, ökonomisch tragfähige und kulturell stabilisierende Lösung gewesen? Zeigt nicht das Osmanische Reich mit seinem plurikonfessionellen und damit pluriethnischen Millet-System von Personalkörperschaften einen – nun allerdings im Rahmen demokratischer Verfaßtheit – auch für Europas 21. Jahrhundert möglicherweise zukunftsweisenden Weg der Überwindung des strukturell durchaus überholten Systems reiner Territorialkörperschaften (vgl. Vogt 2015)?[40]

8. Und wenn „die Zigeuner“ selbst…?

Auf dem Höhepunkt von Andere Akkorde von Simone Schönett verständigen sich die 12 Millionen europäische Rroma auf einen überdimensionierten (und höchst vergnüglich zu lesenden) Flashmob in Brüssel, um ihre Idee der Anerkennung ihres territoriumslosen Staates durch die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union durchzusetzen. Mit einem bestens vorbereiteten Plan für die gesamte Infrastruktur machen sich fast alle der 12 Millionen auf und besetzen die Stadt mit friedlichen Mitteln und viel Musik. So viele Tage bleiben sie, bis das Europäische Parlament zusagt, sich für die Anerkennung einzusetzen. Das ist zwar etwas ganz anderes als die förmliche Anerkennung durch die Staaten selbst oder gar die Ratifizierung eines völkerrechtlich verbindlichen Vertrages, aber die Kräfte der Flashmobteilnehmer sind ebenso erschöpft wie die staunenswerte Geduld der Stadtbewohner und nicht zuletzt der Ordnungskräfte.

Ein wesentlicher Teil der Gesamtstrategie war Druck und Verteilung eigener Pässe des „Europäischen Roma-Staates“, mit denen sie sich nun auf den Heimweg machen und stolz die Pässe an den Grenzen vorweisen. Was kein Staat bislang vermochte, das haben die Rroma in Eigenregie geschafft. Zum ersten Mal liegen dank des Paßwesens für den erhofften Rroma-Staat zuverlässige Statistiken über alle 12 Millionen europäische Rroma vor. Aber gab es nicht schon einmal solche Listen? Was war mit den Ungarndeutschen, die vor 1945 Privilegien erhofften und erhielten, dann aber 1945 von der Roten Armee aufgrund eben der amtlichen Liste der Ungarndeutschen aus ihren Häusern geholt und in Konzentrationslager gesteckt wurden?

Mit einer ganz und gar makabren Schlusspointe endet Andere Akkorde von Simone Schönett. Aus fast allen ihren Häusern in den europäischen Nationalstaaten waren die 12 Millionen Rroma aufgebrochen, um am Brüsseler Flashmob teilzunehmen. Ihre Häuser sind also leer. Wie nun, wenn ‚Minister Salvini‘ und die anderen europäischen Nationalstaaten gar nicht überrascht gewesen wären von der Aktion in Brüssel? Wenn sie die tagelangen Wanderungen auf allen verfügbaren Auto- und Zug- und Flugstrecken gar nicht übersehen, sondern im Gegenteil heimlich unterstützt hätten, um nun auf den entscheidenden Moment zu lauern? Zuhause hatten die Rroma ihre Häuser ja bereits leergezogen. Nun muss ‚man‘ sie nur noch auf ihrer Rückreise an der Grenze beiseitewinken und in die unversehens – wieder einmal – bereitgestellten Lager-über-Lager-über-Lager schaffen. Fern jeder Kommunikation. Bar jeder Hoffnung. Und bar jeden Territoriums. Ein Porajmos eigener Art – „wie vom Erdboden verschluckt“ (S. 246). „Anhalte-Orte“ heißen die Lager im Roman. Ebenso gut könnten sie Transit-Zentren in die Nicht-Existenz heißen. Was wäre, wenn „die Zigeuner“ selbst den Antiziganisten aller Länder die Hände gereicht hätten, um das Rroma-‚Problem‘ ein für alle Mal, und diesmal an der Wurzel, zu beseitigen? Wäre das für die Herren Salvini, Orban, Sarkozy und wie sie alle heißen nicht ein Traum, zu ‚schön‘ um wahr zu sein?

Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem die Verachtung der Fahrenden einst kroch. Möge die Schlussdissonanz nur die Phantasieleistung der Autorin, möge sie nur eine Nachtmahr, möge sie ‚nur‘ Literatur gewesen sein werden!

Bibliographie

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Wolf, Siegmund A.: Wörterbuch des Rotwelschen. Deutsche Gaunersprache, 2. durchgesehene Auflage, Hamburg, 1985, S. 11.

Anmerkungen

[1] Stéphane Laederich sei für eine Reihe von Hinweisen herzlich gedankt.

[2] Die Schreibweise ist delikat aufgrund der zahlreichen Verwechslungsmöglichkeiten zum Beispiel mit dem romanischen Sprachkreis, mit den Bewohnern Rumäniens oder mit dem beiden zugrundeliegenden Stadtnamen „Roma“. Im Italienischen wird letzterer ausgesprochen mit hinter den Schneidezähnen gerolltem [r] (stimmhafter alveolarer Vibrant); „Rroma“ in der älteren Rromanes-Sprache und in den heutigen Vlach-Dialekten dagegen mit einem am Gaumenzäpfchen gerollten [R] (stimmhafter uvularer Vibrant; vgl. im Deutschen „Rübe“, wenn das [R] bühnenhaft-pronciert betont wird).  Das Rr ist auf das *d bzw. das retroflexive im Sanskrit zurückzuführen. In der Mehrzahl der Dialekte ist das „R“ inzwischen ein einfaches geworden.

Vor diesem Hintergrund wird im Englischen das im Deutschen bislang übliche Roma daher teils auch als Rroma geschrieben (bzw. Rhoma, besser wäre allerdings Rhoma). Die gelegentlich zu findende Schreibweise mit Hacik [r̝] „Ř“ ist falsch, da sie ein [ʒ] wie in „Dvořak“ implizieren würde. Die zentrale Schwierigkeit liegt darin, daß es kein Standard-Romanes gibt und das „r“ je nach Dialektform uvular, als Triller oder retroflex ausgesprochen wird.

Eine mögliche Schreibweise im Deutschen wäre das mittelhochdeutsche [Hr] wie in Hrabanus Maurus, also „Hroma“.

[3] Schönett schlägt S. 41 den Terminus „Antiromaismus“ vor.

[4] http://www.roz.si/de/teatr-trotamora/bisherige-produktionen/zala-drama-in-sieben-bildern/#c12 [12.07.2018]

[5] Vgl. die bemerkenswerte Sammlung zu Argots und Argotsprachgruppen in: Merlino D’Arcangelis 2004, insbesondere auch zu frühen sowjetischen Arbeiten und zur im Westen selten reflektierten Erfindung des Begriffs „soziologische Linguistik“ durch Larin 1928 bei Untersuchungen der Moskauer Gaunersprache.

[6] Wolf 1985, 11.

[7] Jütte 1988, 45-48.

[8] Jütte 1988, 147.

[9] Mit umfangreichen Literaturverweisen und der These einer Bildung der Proto-Rroma um 14.000 v.u.Z in Nordwestindien und einem Aufbruch um 600 u.Z. in Richtung Kaspisches Meer: Rai et al. 2012.

[10] Schmitt 1995, 36.

[11] Allerdings zeigen beispielsweise genetische Studien der Tinkers in Irland, dass diese in den letzten 200 Jahre genetisch getrennt von der irischen Bevölkerung sind; insofern ließe sich cum grano salis von einer jungen Ethnie sprechen.

[12] vgl. u.a. Sahlins 1991.

[13] Speck, Paul. Die vermeintliche Häresie der Athinganoi. In: Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik, Vol. 47, 1997, pp. 37-50.

[14] Timotheus Presbyter Constantinopolitanus (ca. 600).

[15] Meier 2015.

[16] Auch die nach dem Lausanner Vertrag 1923 aus Griechenland zusammen mit den meisten Muslimen vertriebenen Roma siedelten im europäischen Teil der Türkei und in Izmir.

[17] Pan, Pfeil, Videsott 2018: 55-56.

[18] Allerdings hat die ungarische Regierung letzthin die Zahl der in Ungarn lebenden Roma auf 800.000 korrigiert; also eine halbe Million mehr als bislang offiziell veranschlagt.

[19] Eine Variante des Persischen an der Grenze zwischen Azerbaidschan und Dagestan.

[20] Simone Schönett nutzt (S. 149) die Zahlen des Europarats, und zwar dessen Maximalschätzungen für die Länder Bulgarien, Rumänien etc., bei der Gesamtzahl wiederum dessen „average estimate“. Der Europarat hält fest: “Most estimates include both local Roma + Roma-related groups (Sinti, Travellers, etc.) & Roma migrants“; siehe http://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?documentId=0900001680088ea9 [12.07.2018]. Er nennt einerseits als „Offical number (self-declared)“ eine Zahl von 1.809.631 Rroma „Total in Europe“ bzw. 1.753.959 im Europaratsgebiet bzw. 1.292.893 in der Europäischen Union. Andererseits gibt er für jedes Land eine Minimalschätzung an (zusammen 6.206.900 Personen) sowie eine Maximalschätzung (zusammen 16.313.700), aus denen er die arithmetische Mitte von 11.260.300 Rroma in Europa zieht (updated on 2 July 2012), die Simone Schütt ihrem Roman zugrundelegt.

[21] http://lallarutschawo.npage.de/get_file.php?id=27799633&vnr=427730.xhtml [10.07.2018]

[22] zit. nach Schmidt-Degenhard 2008, 233.

[23] Tcherenkov, Laederich 2004.

[24] Vgl. Meier 2015.

[25] vgl. zu einem Überblick Mayerhofer 1987.

[26] Vergleiche die Factsheets in Romani History an der Universität Graz im Rahmen des Europarat-Projekts „Education of Roma Children in Europa“ unter http://romafacts.uni-graz.at/ [12.07.2018].

[27] Vielfach wird allerdings auf deren beneidenswerte Privilegien im Vergleich zu den einheimischen leibeigenen Bauern und anderen Bevölkerungsgruppen hingewiesen. Ich danke Anton Sterbling, Bayreuth, für den Hinweis.

[28] Cartarescu 2007.

[29] Siehe unten Fußnote 29.

[30] Vgl. http://antigypsyism.eu/, dort http://antigypsyism.eu/wp-content/uploads/2017/07/Antigypsyism-reference-paper-16.06.2017.pdf bzw. http://antigypsyism.eu/wp-content/uploads/2017/07/Grundlagenpapier-Antiziganismus-Version-16.06.2017.pdf [12.07.2018].

[31] Zum Stil teilt die Autorin am 15. Juli 2018 mit: „Ganz bewusst bin ich in Andere Akkorde der mündlichen Überlieferung gefolgt, habe mich vor ihr verneigt, im Wissen, dass das Lebendige unserer Sprachkultur sich am Papier schwer einfangen lässt!“

[32] Eine noch sorgfältiger durchgesehene zweite Auflage wäre ein Gewinn, gerade mit Blick auf die Bedeutung des Themas für die gegenwärtige Selbstwiederfindung Europas als Rechtsgemeinschaft.

[33] „Zu differenzieren ist dabei zwischen (a) Staaten mit tendenziell vollständiger Inklusion der Gesamtbevölkerung in die Rechtsgemeinschaft und deren intergenerative Weitergabe und (b) Staaten mit Exklusion bestimmter Teile. Die Vorgänge zugunsten einer Inklusion auch der Frauen – ausgehend von der Korsischen Republik 1755 bis zum schweizerischen Kanton Appenzell Innerrhoden 1990 – sind bekannt. Die Vorgänge um die Inklusion alter und neuer „Minderheiten“ dagegen werden nicht in der notwendigen Tiefe thematisiert. Frankreich beispielsweise hat die beiden Europarats-Charten nicht ratifiziert. Demgegenüber hat sich das vordem arme Südtirol seit der Gewährung von Autonomie für seine Volksgruppen zu einer Wohlstandsregion entwickelt.

Die interne Konstitution eines Staates kann geschehen: (i) traditional-repressiv durch Druck der Machthaber auf die eigene Bevölkerung. Dies ist in den meisten historisch überlieferten und in der Mehrzahl der gegenwärtigen Staaten der Fall. […] (ii) pragmatisch-adaptiv durch Gewohnheit und persönlich-unmittelbaren Vorteil. Dies ist der Hintergrund der Wohlfahrtssysteme in einem kleineren Teil der gegenwärtigen Staaten. […] (iii) konsensual durch Bejahung und den „Willen, aktiv an der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse mitzuarbeiten“. Dies ist das Kennzeichen hochentwickelter Demokratien wie beispielsweise in Japan, der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere der Schweiz. […]“ Vogt,  Fritzsche, Meißelbach 2016: 62-63.

[34] Dem Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten | Convention-cadre pour la protection des minorités nationales | Framework Convention for the Protection of National Minorities gingen Verhandlungen seit 1949 voraus, verabschiedet wurde es 1995, in Kraft ist es seit 1998. Von den 47 Staaten des Europarates haben 8 Staaten bislang (2018) nicht unterzeichnet, u.a. Frankreich und die Türkei. 4 Staaten haben unterzeichnet, aber nicht ratifiziert, u.a. Belgien. 39 haben ratifiziert.

[35] Der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen | Charte européenne des langues régionales ou minoritaires | European Charter for Regional or Minority Languages gingen Verhandlungen seit 1957 voraus, verabschiedet wurde sie 1992, in Kraft ist sie seit 1998. Von den 47 Staaten des Europarates haben 14 Staaten bislang (2018) nicht unterzeichnet, u.a. die Türkei. 8 Staaten haben unterzeichnet, aber nicht ratifiziert, u.a. Frankreich, Italien, Lettland und Rußland. 25 haben ratifiziert. Unter diesen schützen derzeit 17 Staaten das Rromanes (Bosnien und Herzegowina, Deutschland, Finnland, Montenegro, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Rumänien, Schweden, Serbien, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ukraine, Ungarn).

[36] „I appeal to the Indian government to build a political consensus on the recognition of the Romas as a linguistic, historical and cultural minority and to demand from the United Nations that their authoritative organs raise at the General Assembly the question of the legal and political position of the Romas,” said Bajram Haliti, Secretary General, the World Roma Organisation. Belgrade-based Haliti, also a poet who has published a collection on Bollywood actor Aishwarya Rai Bachchan, said, “If it is a prerequisite to change our name from Roma to Hindu, I suggest we do so. Because one of the conditions to solve the Roma issue is, as per international laws, that a minority should have a distinctive home country.” The Wire, New Delhi 15.02.2016, [12.07.2018] https://thewire.in/diplomacy/the-modi-government-and-rss-are-keen-to-claim-the-roma-as-indians-and-hindus

[37] Dokumente einschl. First and Second Progress Report unter https://www.coe.int/en/web/portal/roma [12.07.2018].

[38] https://docs.google.com/viewer?a=v&pid=forums&srcid=MTYzNTg0ODQ1MTQ3NDMxMjY4N
TIBMDUwOTcyOTk1MzcyMTQ1NTE5NDYBcURXN0t1Ukt1VHNKATAuMgEBdjI. [12.07.2018]

[39] Dessen Hauptautorin ist Floarea-Maria Zoltan (Florina Zotlan), deren Ehemann und zwei Brüder im Hadareni-Progrom 1993 starben. Diesen brachte sie vom britischen Exil aus vor den Europäischen Gerichtshof, was 2005 zu einer Verteilung der Republik Rumänien wg. Rassismus und zu immerhin einer Geldentschädigung für die 13 vom Mob in Brand gesteckten Rroma-Häuser führte.

[40] „Das millet-System diente der Einbindung der Bevölkerung in das Osmanische Reich entsprechend ihrer Religionszugehörigkeit, auch der nicht-muslimischen Minderheiten über deren Religionsgemeinschaften. Diese waren notwendigerweise als Personalkörperschaften, nicht als Territorialkörperschaften organisiert. Das Osmanische Reich vermied dadurch jenen unauflösbaren Widerspruch zwischen einem territorial organisierten Nationalstaat und seinen Volksgruppen, der in Zentraleuropa in eine bis heute nicht eigentlich aufgelöste Sackgasse führen sollte. Den millets wurde der Status einer Körperschaft mit bestimmten öffentlichen (Verwaltungs-)Aufgaben eingeräumt, insbesondere der Steuererhebung. Der Patriarch des griechisch-orthodoxen rum milleti („römischen“ Volks) stand im Rang eines Paschas mit drei Roßschweifen (Clogg 1986, 20), unmittelbar unter dem Sultan mit vier Roßschweifen. Das römische wie das armenische milleti wurden 1453 bzw 1461 anerkannt, das jüdische de facto ebenfalls 1453, de jure erst 1839. Näheres zum millet-System bei Zaffi 2006“. (Vogt 2015, 100).