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Interkulturalität als systemische Herausforderung für Europas Nationalstaaten

Matthias Theodor Vogt: Interkulturalität als systemische Herausforderung
für Europas Nationalstaaten [Interculturality as a systemic Challenge for Europe’s National States]. Europäisches Journal für Minderheitenfragen EJM 11, 1-2 /2018, pp 180-204
Im Zeichen des internationalen Menschenrechts- und Minderheitenschutzes. Festschrift zu Ehren von emer. o.Univ.-Prof. DDr. jur. Dr. h.c. mult. Franz Matscher anlässlich der Vollendung seines 90. Lebensjahres am 19. Januar 2018.

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Vogt: Interkulturalität-als-systemische-Herausforderung_EJM_1_2_2018_11

Abstract

Interculturality as a systemic Challenge for Europe’s National States

A nation state has no material reality in itself. As an interpersonal convention
aiming to constitute a legal community of mutual solidarity, its nature is
abstract and immaterial only. Its success depends on whether or not its population
internalizes its norms and values, and hands them over intergenerationally,
or at least accepts them in daily life. The iuridico-political dimension of a nation
state depends on its mental dimension, unfolded through a Great Story narrative.
In most nowadays European Union member states, the national Great Story increasingly
falls back to what Rousseau in his Contrat Social (1772) described as a
civic religion: “hors la seule nation qui la suit, tout est pour elle infi dèle, étranger,
barbare; elle n’étend les devoirs et les droits de l’homme qu’aussi loin que ses
autels. | Beyond the one and only respective nation which follows it, everything
is regarded as incredulous, strange, barbaric; the civic religion only encompasses
the needs and rights of people as far as it erects its altars“. This essay questions
whether and in which regard interculturality – such as based on the Abdallah-
Pretceille procedural approach, as well as on the Deleuze approach of identity
resulting from difference, and not any more vice versa – may or may not serve as
a new paradigm for national law and its underlying myths.

Keywords

Interculturality;  Interkulturalität; Law Systems, underlying myths; Rechtsysteme, zugrundeliegende Mythen; National narratives; Nationalnarrative; Rousseau, civic religion; Zivile Religion; Deleuze approach of identity; Identitätsansatz Deleuze; Difference, Alterity, Alienity; Differenz, Alterität, Alienität.

Inhalt

0. Ein Werden ohne Vergehen. 3

1. Nationales Recht als Mentalitätsraum.. 5

1.1. Fünf Ebenen der Verrechtlichung der europäischen Lebenswirklichkeit 5

1.2. Europa als Summe mononationaler Mentalitätsräume. 8

1.3. Zum horror vacui des national definierten Staates: Leerstellen als philosophisch-poetisches Problem.. 9

1.4. Identitätsannahmen am Beginn des Begriffes ‚Interkulturalität‘ und bei der UNESCO. 11

2. Was wäre wenn? Heuristische Überlegungen zu einer Abschaffung der britischen Monarchie am 29. März 2019, parallel zum Brexit 14

2.1. Unsicherheit in der eigenen Kultur 14

2.2. Die Große Erzählung der Nationen oder: Stilisierung von Besonderheit zur Einzigartigkeit 18

2.3. Politik als Spiel mit der Angst vor dem Fremden: Taking our Country Back. 19

3. Interkulturalität als systemische Herausforderung für Europas Nationalstaaten   23

0. Ein Werden ohne Vergehen

In der Natur waltet ein konstanter Prozess des Werdens und Vergehens. Dies gilt auch für den rein natürlichen Teil des Menschen, seinen biochemischen Körper. Die Rückführung der menschlichen Biomasse in Ausgangsmaterial für neues Leben ist mit kulturell gutem Grund ein zentraler Aspekt der drei abrahimitischen Religionen oder auch von neueren ökologischen Ansätzen wie Recompose[1] oder Promession.[2]

Demgegenüber geht der Mensch in einer seiner stolzesten Erfindungen, dem Rechtssystem, von der offensichtlichen Hybris einer Ewigkeitsdauer aus. Gesetze haben ein Entstehungsdatum, sprich die Gesetzespublikation. Aber sie haben in aller Regel kein Verfallsdatum – sie werden dem Anspruch nach für eine unbestimmte Zeit und Gültigkeitsdauer erlassen. Erst wenn die kulturellen Grundannahmen, die sozialen und politischen Machtverhältnisse, die finanziellen Ressourcen sich geändert haben oder Krieg, Revolution und Seuchen grundhaft neue Zustände des gesellschaftlichen Zusammenlebens bestimmen, werden die den Nationalstaat fixierenden Verfassungen auf den Evaluations- und Anpassungsprüfstand gestellt, wird ein neues Entstehungsdatum gesetzt.

Und oft genug auch dann nicht. Ein klassisches Beispiel für Hartnäckigkeit im positiven Recht ist das Entschädigungsversprechen der Rheinfürsten. Ihre flächendeckenden Territorialarrondierungen unter Napoléon I. waren unter anderem – aber keineswegs insbesondere – zulasten von 19 Reichsbistümern und 44 Reichsabteien gegangen.[3] Das Versprechen harrt seiner Einlösung noch heute über alle Regimewechsel hinweg. Der Wiener Kongress hat keinen Vertrag zustande gebracht; das Deutsche Reich von 1871 nicht; die Weimarer Verfassung spricht in Art. 138 von einem zukünftigen Handeln der Länder. Im Grundgesetz sind die Weimarer Artikel als Verweis inkorporiert, ein einmaliger Fremdkörper, der nach der Wiedervereinigung die staatliche Alimentierung der Bischöfe und Domkapitel selbst bei der Wiedergründung der mehrheitlich religionsfernen Ostländer erzwang. Die Lasten von Lunéville 1801 – Regensburg 1803 – Wien 1815 sind weder abgelöst noch auf ihre historische Stichhaltigkeit überprüft.[4]

Man kann mit Rolf Schieder inhaltlich vermuten, dass diese Persistenz wesentlich zusammenhängt mit dem aufklärerischen Erbe der „religion civile | Zivilreligion“ (Rousseau)[5] als „Rückbindung der Untertanen [sic!] an eine nichtdogmatische Religion. Dieses auf liberale Demokratien hin entwickelte System scheint heute“, so Schieder, „nicht wenigen geeignet, als gemeinsame sozio-moralische Grundlage des Gemeinwesens zu dienen.“[6] Man kann aber auch strukturell festhalten, dass es zweihundert Jahre nach der religiösen Aufladung der Vaterlandskriege gegen Napoléon I. Europas Gesellschaften nicht gelungen ist, eine gemeinsame „religion du citoyen“ (Rousseau ebenfalls im Contrat Social) als „vorpolitische Grundlage politischer Ordnung“ (Herfried Münkler)[7] zu entwickeln. Im Gegenteil: es wachsen derzeit einzelstaatliche Mythenbildungen, die ihrerseits gerade nicht auf einzelbürgerlicher Mündigkeit basieren.[8] Im bundesdeutschen Fall wird einerseits den beiden Kirchen eine staatstragende Funktion zugeschrieben. Andererseits hat, so ist zu vermuten, das Rechtssystem hier eine gewisse Vertreterfunktion übernommen und inkorporiert auch eben deshalb Ewigkeitsmomente. [9] Das Vergehen wird ausgesetzt.

Wie ‚wird und vergeht‘ dieser Beitrag?

Wir werden im Folgenden (Abschnitt 1) zunächst den Mentalitätsraum des nationalen Rechtes mit seinen Verrechtlichungstendenzen skizzieren sowie – ausgehend von Leerstellen als philosophisch-poetischem Problem – einigen Phänomenen und Hintergründen des horror vacui national definierter Staaten nachgehen, bevor wir die damit zusammenhängenden Identitätsannahmen bei der mehrfachen Prägung des Begriffes ‚Interkulturalität‘ sowie bei unterschiedlichen Sprachfassungen einer UNESCO-Konvention vorstellen.

In einem kleinen Zwischenspiel (Abschnitt 2) mit hypothetisch-heuristischen Überlegungen zu einer Abschaffung der britischen Monarchie am 29. März 2019, parallel zum Brexit, diskutieren wir die Unsicherheit in der eigenen Kultur – wie sie die heutige politische Landschaft Europas zunehmend prägt – und den Versuch, im Rahmen einer nationalen Großen Erzählung Besonderheit zur Einzigartigkeit zu stilisieren. Dies birgt u.a. das Risiko, dass das politische Spiel mit der Angst vor dem Fremden der nationalen und inter-nationalen Wirtschaft zerstört.

Im abschließenden Teil (Abschnitt 3) nehmen wir die Warnung von Rousseau in seinem Contrat Social (1772) vor den Kollateraleffekten einer Zivilreligion auf (« hors la seule nation qui la suit, tout est pour elle infidèle, étranger, barbare; elle n’étend les devoirs et les droits de l’homme qu’aussi loin que ses autels. »)[10] und kontrastieren sie mit dem Deleuz’schen Ansatz, Identität als Resultante von Differenz zu fassen (statt wie bei den Nationalstaaten bislang umgekehrt Differenz als Resultante von Identität). Lassen sich Umrisse eines „Recompose“-Ansatzes fassen?

1. Nationales Recht als Mentalitätsraum

1.1.  Fünf Ebenen der Verrechtlichung der europäischen Lebenswirklichkeit

Die Hybris eines ‚werden ohne vergehen zu dürfen‘, sprich: die konstante Überformung ohne das Abtragen älterer Schichten und ohne das Offenhalten von ‚Röhren‘ (Lichtenberg 1775/76, siehe unten), ist eine der Ursachen für die immer stärkere Verrechtlichung der europäischen Lebenswirklichkeit.

Den Bürgern ist wenig bewusst, auf welcher der fünf möglichen Ebenen sich diese Verrechtlichung zentral abspielt. Die kommunale Ebene ist es nicht, da diese mit ihren Satzungen (das Äquivalent zu Gesetzen auf staatlicher Ebene) stets nur „im Rahmen der Gesetze“ des jeweiligen Nationalstaats handeln kann. Und dieser erfreut sich, allen Unkenrufen von Regionalfreunden und Globalutopisten zum Trotz, eines geradezu blühenden Lebens und ist auf absehbare Zeit die entscheidende Größe im Rechtssystem Europas.

Das keineswegs rechtskonforme[11] Solidaritätsversagen der EU-Mitgliedsstaaten in der Schottlandkrise 2014 und mehr noch in der Katalonienkrise 2017 war systemisch bedingt. Die „imagined community“[12] Nation und ihre historisch-kontingente Emergenz auch nur ansatzweise in Frage stellen zu lassen, träfe das System Nationalstaat zutiefst. Das gleiche gilt für die Versuche weiterer kultureller, sprachlicher und ethnischer Minderheiten: Ihr – im Europäischen Journal für Minderheitenfragen systematisch begleitetes – Verlangen nach Eigenmündigkeit, Autonomie oder sogar Autokephalie tangiert den Kern von Nationalstaatlichkeit und ‚muss‘ von daher mit allen Mitteln des Rechtsstaats unterdrückt werden.[13]

Dazu gehören simple Nichtförderentscheidungen wie die der Stiftung für das sorbische Volk vom 30. November 2017 gegenüber der sorbischen Demokratiebewegung „Iniciatiwa Serbski sejm“. Die Begründung lautete: „Der Antrag kann von der Stiftung für das sorbische Volk nicht unterstützt werden, da der Fördergegenstand nicht dem im Staatsvertrag über die Errichtung der Stiftung für das sorbische Volk beschriebenen Stiftungszweckes entspricht.“[14] Verwaltungsrecht ist nie banal, sondern Ausfluss von Grundüberzeugungen. Von daher kann die Überlegung, ob die europäischen Volksgruppen-Minderheiten, die mit großer Selbstverständlichkeit von ihrer Muttersprache in die jeweilige Amtssprache und wieder zurück springen, vielleicht als Vorbild für die in offensichtlich steigender Unsicherheit befangenen größeren Völker mit Nationalstaaten dienen könnten, bislang eher als Hoffnung utopischen Formates erkannt werden. Das nationale Recht ist und bleibt zentraler Handlungsraum; im Gegenteil: je mehr die Finanzen der Staaten von der sich globalisierenden Wirtschaft abhängen, desto mehr bemühen sie sich, das nationale Recht als zentralen Mentalitätsraum stets noch tiefer durchzusetzen.

Auch die globale Ebene ist keine wesentliche Ebene der Verrechtlichung. Der 1648 im Westfälischen Frieden gefundene Ansatz, dass nicht Völker oder wer auch immer miteinander verhandeln, sondern ausschließlich Regierungen in bilateralen oder multilateralen Verträgen, hat alle Zeitläufte überdauert. Auf globaler Ebene gibt es keine höherrangige Institution, die aus eigener Machtvollkommenheit Recht setzen könnte. Speziell die Vereinbarungen zu den Menschenrechten bedürfen nach wie vor der Ratifizierung durch die einzelstaatlichen Parlamente und des ausdrücklichen Willens von nationaler Exekutive und Judikative, das auf dem Papier Gedruckte in der sozialen Wirklichkeit auch tatsächlich umzusetzen. Einen Klageanspruch von Einzelpersonen oder Gruppen gibt es im Wesentlichen nicht; Sanktionsmöglichkeiten seitens der Staatengemeinschaften sind beschränkt.

Anders beim Europarat. Eine seiner völkerrechtlichen (konsensual zwischen den Staaten eingeführten) Besonderheiten ist, dass hier Einzelpersonen sehr wohl das unmittelbar einklagbare Recht haben, beim auf Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention 1959 eingerichteten und 1998 grundlegend reformierten Europäischen Gerichtshof in Straßburg mit einer Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK gegen ihre eigene Regierung zu klagen. Dies ist von besonderer Relevanz für Menschen in den autoritären Systemen von Türkei und Russländischer Föderation, die Jahr für Jahr bei der Verurteilungsquote an der Spitze liegen, mit größerem Abstand gefolgt von Ukraine, Griechenland, Rumänien und Polen.

Die Europäische Union kennt einerseits das die Union konstituierende zwischenstaatliche Primärrecht, andererseits das von der Union ausgehende Sekundärrecht, den sogenannten Acquis Communautaire. Letzterer umfasst zwischenzeitlich eine kaum mehr überschaubare und stets weiterwachsende, um nicht zu sagen: weiterwuchernde Anzahl von Regelungen. (Für die von Rem Koolhaas konzipierte Ausstellung The Image of Europe im Rahmen der niederländischen Ratspräsidentschaft 2004 wurde eine 31-bändige Gesamtausgabe des gemeinschaftlichen Besitzstandes mit ca. 85.000 Seiten angefertigt.) Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 80 % der nationalen Gesetzgebungen auf diesem Acquis Communautaire beruhen. Dies gilt insbesondere für die zentrale Kompetenz der Europäischen Union, die Gewerbefreiheit. Diese hatte schon 1866 beim Norddeutschen Bund, 1871 beim Deutschen Reich, 1919 in Weimar und 1949 im Grundgesetz die zentrale gesamtstaatliche Kompetenz gegenüber den Mitgliedsstaaten und heutigen deutschen Ländern ausgemacht. Im Zusammenhang von Kohle & Stahl wurde sie 1950 auf die europäische Ebene verschoben.

Für alle anderen Bereiche aber gilt die Feststellung, die eine Forschergruppe[15] beim Versuch, eine Fusion der Theater von Görlitz (DE), Jelenia Góra (PL), Liberec (CZ) und Zittau (DE) zu einem „Theaterverbund Neiße“ herbeizuführen, ernüchtert treffen musste: die Dominanz und Inkompatibilität der nationalen Rechtssysteme bei Personal- und Sachrecht ist so stark, dass eine Umgründung in eine Europäische Aktiengesellschaft keinen geordneten Theaterbetrieb erlauben würde. Mehr als eine auf Projekte beschränkte fallweise Kooperation zwischen den vier Theaterhäusern war und ist nicht möglich. Unternehmen auch der Kulturwirtschaft benötigen ein national kodiertes Standbein.

1.2.  Europa als Summe mononationaler Mentalitätsräume

Weitaus gravierender noch erschien bei den Untersuchungen zum Theaterverbund Neiße die Differenz der Mentalitätsräume. Gesetze sind nur die äußerliche Erscheinungsform des Rechts. Mit Vogt u.a. (2016) ist festzustellen: „Staaten haben im physischen Sinn keine materielle Realität. Es gibt auch keine allgemein akzeptierte Staatsdefinition, nur hilfsweise wird (noch immer) auf [Georg Jellineks] Dreiheit von Staatsvolk – Staatsgebiet – Staatsgewalt [aus dem Jahr 1900] zurückgegriffen. Faktisch handelt es sich um eine abstrakt-immaterielle, solidarische[16] Rechtsgemeinschaft. Die jeweilige Rechtsgemeinschaft ist eine im geistigen Raum zu verortende interpersonale Konvention und letztlich abhängig davon, ob und inwieweit die Bevölkerung des betreffenden Territoriums deren Normen entweder notgedrungen akzeptiert oder als handlungsleitende internalisiert und intergenerativ weitergibt.“[17]

Auf ein damit unmittelbar zusammenhängendes zentrales Problem des nationalen Rechtes weist Thomas Sternberg in der vorliegenden Festschrift hin: „Wer über internationalen Menschenrechts- und Minderheitenschutz nachdenken will, so wie die Leser und die Autoren dieser Festschrift für Franz Matscher, sollte sich stets der [Tatsache] bewusst bleiben, dass […] die Annahme einer ursprünglichen Einheit des europäischen Kontinents eine historisch nicht verifizierbare Schimäre ist. Analoge Annahmen auf Nationalstaatsebene haben die wesentlichen Atrozitäten des XX: Jahrhunderts ausgelöst. Für europäische wie für nationale retrograde Einheitsannahmen, bei denen höchst politische Absichten sich jeweils Bahn gebrochen haben, kann mithin die Unschuldsvermutung nicht gelten. […]“

1.3. Zum horror vacui des national definierten Staates: Leerstellen als philosophisch-poetisches Problem

Bevor wir uns im Folgenden Gedanken über das Füllen etwaiger, aus Einheits-Chimären geborenen, politischer und damit rechtlicher Leerstellen machen, sei zunächst mit Christian Morgenstern[18] darauf hingewiesen, dass zum menschlichen Leben Leerstellen unbedingt dazugehören – der häufig zitierte „Zwischenraum, hindurchzuschaun“.

Der Lattenzaun
(ca. 1895, Erstveröffentlichung in den „Galgenlieder“ 1905)

Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.

Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da –

und nahm den Zwischenraum heraus
und baute draus ein großes Haus.

Der Zaun indessen stand ganz dumm,
mit Latten ohne was herum,

Ein Anblick gräßlich und gemein.
Drum zog ihn der Senat auch ein.

Der Architekt jedoch entfloh
nach Afri- od- Ameriko.

Genüsslich stellt Kurt Tucholsky seinem „Zur soziologischen Psychologie der Löcher“[19] ein Zitat von Lichtenberg voran: „Daß die wichtigsten Dinge durch Röhren gethan werden. Beweise: erstlich die Zeugungsglieder, die Schreibfeder und schließlich unser Schießgewehr, ja was ist der Mensch anders als ein verworrnes Bündel Röhren?“[20]

Tucholsky fährt fort: „Ein Loch ist da, wo etwas nicht ist. Das Loch ist ein ewiger Kompagnon des Nichtlochs: Loch allein kommt nicht vor, so leid es mir tut. Wäre überall etwas, dann gäbe es kein Loch, aber auch keine Philosophie, und erst recht keine Religion, als welche aus dem Loch kommt.“ Zu ergänzen wäre: Das Recht mit seinem normativen Anspruch, nach Möglichkeit allen Situationen zwar einen Rahmen für eine allgemeinverträgliche Durchsetzung von Interessen zu bieten, ohne aber sämtliche Lebenswirklichkeiten prädefinieren zu können, kommt nicht selbst aus dem Loch, sondern stellt eine Lichtenbergsche ‚Röhre‘ dar, die Loch und damit Raum schafft. In Zéro ou le Point de départ formuliert Petru Dumitriu zur indischen, die Welt revolutionierenden Erfindung der Null: « Le Zero, c’est […] un trou. »[21] Die Null als Loch eröffnet, wie Morgensterns Gartenzaun, den Blick in eine Dimension jenseits des Positiven.

Das – die europäische Lebenswirklichkeit immer mehr prägende – Weiterwuchern des positiven Rechtssystems, man könnte durchaus von einer Überverrechtlichung sprechen („und nahm den Zwischenraum heraus“), spiegelt den horror vacui des national definierten Staats wieder. Er kommt nicht, wie Tucholsky so hübsch anmerkt, gleich der Religion selbst „aus dem Loch“. Vielmehr muss er sich, um das Bild von Lichtenberg aufzugreifen, sein „Röhren“-System selber schaffen – der freiheitliche, säkularisierte Staat ist ewig auf der Suche nach seinen eigenen „Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“.[22] Doch umgekehrt gilt auch hier, um Morgensterns Bild aufzugreifen („und nahm den Zwischenraum heraus / und baute draus ein großes Haus“) – das Loch-an-sich kann nicht funktionieren. (Auch wenn aus bloßem „Zwischenraum“ schon viele politische Programme erzeugt worden sein mögen.)

1.4.  Identitätsannahmen am Beginn des Begriffes ‚Interkulturalität‘ und bei der UNESCO.

Der national definierte Staat geht zur Legitimierung seiner Staatsgewalt von der Fiktion einer doppelten Einheitlichkeit seines Staatsterritoriums und seines Staatsvolkes aus. Leerstellen darf es hierbei a priori nicht geben. Dieser Legitimierungsansatz geht, staatsphilosophisch betrachtet, deutlich hinter die Differenzierung zwischen Personalkörperschaften einerseits und einer diese überwölbenden Territorialkörperschaft andererseits im osmanischen Millet-System zurück. Das Osmanische Reich – über Jahrhunderte hinweg alles andere als ein ‚kranker Mann am Bosporus‘ – organisierte seine Personalkörperschaften konfessionell, administrierte seine Territorien einheitlich, und besetzte durch die Sultansmutter die Staatsspitze faktisch oft genug heteroethnisch. Um 1900, bei dem in Heidelberg wirkenden und in Berlin publizierenden Österreicher Georg Jellinek mit seiner oben zitierten und bis heute herangezogenen Dreiheit von Staatsvolk – Staatsgebiet – Staatsgewalt, widersprach der osmanische Ansatz dem Zeitgeist. Der Libanon indessen hat diesen Ansatz fortgeführt und verdankt ihm das geistig regeste Klima im gesamten Vorderen Orient. Für das Zweistaatenproblem Israel-Palästina böte er einen möglichen Ausweg. Für die Europäische Union wurde er bislang theoretisch nicht gedacht; auf der praktischen Ebene des kommunalen Wahlrechtes und der Personenfreizügigkeit wird ein „gemeinsames Indigenat“ (so die Formulierung aus den Verfassungen Norddeutscher Bund 1867, Deutscher Bund 1870, Reichsverfassung 1871, die eine doppelte Staatsbürgerschaft überflüssig machte) jedoch umgesetzt.

Die nationalstaatliche Grundannahme geographisch und ethnisch relativ stabiler Identitäten, denen dann abweichende Identitäten als Alteritäten oder sogar Alienitäten gegenüberstünden, findet sich gleich dreimal am Beginn des Begriffes ‚Interkulturalität‘.[23] (1) Der US-amerikanische Anthropologe Edward T. Hall forschte 1933–37 bei den Navajo und Hopi, während und nach dem Krieg auf mehreren Kontinenten. Er wurde in den 50er Jahren von der US-Regierung mit dem Training von Diplomaten beauftragt. Seine – gemeinsam mit seiner Frau Mildred Reed Hall entwickelten – Erkenntnisse zu Menschen in unterschiedlichen Ländern legte er in verschiedenen Publikationen nieder, die zur Referenz für das Fachgebiet Interkulturelle Kommunikation wurden.[24] (2) Schon vor Hall, seit den 1940er Jahren, standen die Staaten Lateinamerikas bei ihrem Nation Building vor der Schwierigkeit, unter dem politisch gemeinten Terminus „interculturalidad“ staatsinterne Andersheit zu überwinden und aus Indigenen, Mestizen und Iberostämmigen eine homogene Bürgerschaft zu formen.[25] (3) Ein drittes Mal wurde der Terminus erfunden, als Frankreich nach der Dekolonisation des Maghreb 1960 immer größere Gruppen von Immigranten aufnahm und ein spezifisches Bildungssystem entwickeln musste. In diesem Zusammenhang schlug Martine Abdallah-Pretceille vor, im Französischen statt des epistemologisch überladenen Begriffs „Culture“ den Terminus „Culturalité“ zu nutzen und so die prozessuale Dimension des Bildungsvorganges unterstreichen zu können.[26] In der Tat kommt „Kultur“ von der lateinischen Bildungsmetapher cultura animi (den Geist bestellen wie ein Bauer dies mit seinem Acker tut). Daher sind auch im Deutschen „Kultur“ und „Bildung“ (frz. éducation, das „Herausführen“, vgl. Kant) wesentlich identisch. Sie beschreiben einen individuellen Mündigkeitsprozess. Bei beiden handelt es sich um ein Singulare Tantum – so wie ein Plural „Bildungen“ nicht existieren kann,[27] kann es auch keinen Plural „Culturalités | Kulturalitäten“ geben. Vogt, Fritzsche, Meißelbach (2016) schlugen vor, für diesen individuellen Bildungs- und Mündigkeitsprozess den Begriff „Enkulturation“ zu verwenden; bei Immigranten den der Sekundären Enkulturation.[28]

Zusammengefasst: In allen drei Fällen der Parallelerfindung des Begriffes ‚Interkulturalität‘ – in den 40er Jahren in Lateinamerika, bei Hall in den 50er Jahren, in den Banlieues der 60er und 70er Jahre – standen eine politische Notwendigkeit und eine politische Initiative am Anfang. Alle drei Ansätze gehen von gegebenen Grundidentitäten aus, nicht wie bei Deleuze (siehe unten Abschnitt 3) von Identitäten als Effekt von Differenz.

Interessant in diesem Zusammenhang ist zumindest die französische Fassung der UNESCO-Convention sur la protection et la promotion de la diversité des expressions culturelles | Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen (2005). Sie formuliert, in der frz. Fassung ohne einen Nexus zwischen identités und peuples:

Considérant que la culture prend diverses formes dans le temps et dans l’espace et que cette diversité s’incarne dans l’originalité et la pluralité des identités ainsi que dans [sic !, neuer Halbsatz] les expressions culturelles des peuples et des sociétés qui constituent l’humanité,

Taking into account that culture takes diverse forms across time and space and that this diversity is embodied in the uniqueness and plurality of the identities and [fehlt: is equally embodied in the] cultural expressions of the peoples and societies making up humanity,

in Anbetracht dessen, dass die Kultur in Zeit und Raum vielfältige Formen annimmt und dass diese Vielfalt durch die Einzigartigkeit und Pluralität der Identitäten [fehlt: verkörpert wird] und [durch die] kulturellen Ausdrucksformen der Völker und Gesellschaften [streiche: verkörpert wird], aus denen die Menschheit besteht;

In der englischen und deutschen Fassung schafft die Konvention in der Lesart der (offensichtlich staatsverhafteten) deutschen UNESCO-Nationalkommission „eine völkerrechtlich verbindliche Grundlage für das Recht aller Staaten auf eigenständige Kulturpolitik“.[29] In der französischen Fassung schafft sie auch eine völkerrechtlich verbindliche Grundlage für das Recht auf Einzigartigkeit von substaatlich oder transstaatlich besonders organisierten Volksgruppen und sogar von Einzelnen. Identität wird hier nicht als von Staat und „Volk“ von oben herab vermittelte Größe unterstellt; eine auch innerstaatliche Pluralität sowie eine nicht territorial fixierte Identität erscheinen möglich. Dies wiederum ist der Kern der beiden Minderheitskonventionen des Europarates, die unter dem Eindruck der Atrozitäten bei der Jugoslawienauflösung auf die politische Agenda kamen.[30]

2.  Was wäre wenn? Heuristische Überlegungen zu einer Abschaffung der britischen Monarchie am 29. März 2019, parallel zum Brexit

Bevor wir (unten in Abschnitt 3) an Thomas Sternberg anschließen und unsere Frage nach Interkulturalität als systemische Herausforderung für Europas Nationalstaaten abschließen, wären zunächst die xenophoben Umtriebe in weiten Teilen Europas und das Wiederaufblühen eines simplifizierenden Nationalismus (‚My country first‘) in den Blick zu nehmen. Wieweit gehen solche Abschottungsmechanismen auf Unsicherheit innerhalb der eigenen Kultur zurück?

2.1.  Unsicherheit in der eigenen Kultur

Manchmal kann es aus heuristischen Gründen angebracht sein, eine „Was wäre wenn?“-Überlegung einzuschalten. Stellen Sie sich daher, liebe Leserin, lieber Leser, im Folgenden einmal vor, die Briten hätten am 23. Juni 2016 nicht nur für einen Brexit aus der Europäischen Union votiert, sondern auch für ein Ende der Monarchie. Unschwer ist zu sehen, dass sich eine mehrfache Leerstelle ergibt, wenn man seinen König abschafft.[31] Mehrfache Leerstellen jedoch schaffen Kontingenzen im Quadrat und führen direkt in einen Kontingenztaumel.

Erstens würde, wenn wir Ernst Kantorowicz[32] und seiner Phönix-Theorie der beiden Körper des Königs folgen wollen, mit der aus diesem Votum notwendig folgenden Abdankung von Elizabeth II. bzw. ihres Nachfolgers die Inkarnation eines hochkomplexen Staatsgebildes verschwinden, die ‚Verfleischlichung‘ des englisch-walisisch-schottisch-nordirischen Vereinigten Königreichs sowie seiner 14 British Overseas Territories (die zum Staat gehören) plus der souzeränen Kronbesitzungen Isle of Man und Channel Islands (die nicht zum Staat gehören). Ein Votum der Briten hätte Folgen über den Staat hinaus. Den Staat selbst kann man bekanntlich nicht anfassen, da er wie oben ausgeführt lediglich eine interpersonale Konvention darstellt und nur über seine Personen und Symbole greifbar wird. Den König (bzw. die Königin) dagegen, der im UK nur für die symbolische Grundlage von Politik zuständig und vom Wechselspiel der Parteien unabhängig ist, kann man zumindest vorstellungsmäßig durchaus anfassen.

Zweitens würde mit der gleichen Abdankung auch die Inkarnation des Commonwealth of Nations verschwinden, 1931 bis 1947 als British Commonwealth of Nations gegründet, das für den Handel untereinander überaus wichtige letzte Bindeglied zwischen dem Vereinigten Königreich und seinen ehemaligen Überseekolonien. (“Autonomous Communities, equal in status, united by a common allegiance to the Crown”, Balfour-Bericht 1926). Auch die Queen of Canada, Queen of Australia, Queen of New Zealand etc. gäbe es nicht mehr. Ein Votum in Großbritannien hätte interkontinentale Folgen.

Drittens würde mit der gleichen Abdankung die Church of England ihren Supreme Governor verlieren. Lassen Sie mich dies mit einem Beispiel aus Deutschland verdeutlichen. Es wird meistens völlig unterschätzt, in welches geistiges Chaos Prinz Max von Baden Preußens Beamtenschaft gestürzt hat, als er ohne vorherige Rücksprache mit dem preußischen Landesbischof und König Wilhelm, als Kaiser des Dt. Reiches Wilhelm II., am 9. November 1918 dessen Abdankung erklärte. Max von Baden trieb damit die Protestanten vierhundert Jahre nach Luther in die Verlegenheit, ihre Kirche plötzlich von unten her aufbauen zu müssen. ‚Dies ist nicht mein Staat‘, war ein geradezu überwiegendes Gefühl vieler Staatsdiener in der Weimarer Republik; ein gewichtiger Grund für dessen schnelle Implosion zugunsten der nationalsozialistischen Diktatur.[33] Am 31. Oktober 2017 konnten wir nicht nur 500 Jahre Thesenanschlag feiern, sondern auch 99 Jahre eines erfolgreichen Demokratisierungsprozesses im nördlichen Deutschland. Wenn wir religiöse Phänomene als Kulturphänomene interpretieren, waren das Scheitern der Weimarer Republik und der Erfolg der Bonner Republik wesentlich kulturbedingt.

Stellen wir uns also vor, die Briten müssten zwei Jahre nach Übergabe ihres Schreibens in Brüssel, also zum 29. März 2019, das Ende ihrer Monarchie vollziehen zusammen mit dem  Brexit aus der Europäischen Union (auch wenn letzterer zwischenzeitlich offensichtlich von vielen der damaligen Nichtwähler gar nicht mehr gewünscht wird). Und nehmen wir ceteris paribus an, die Brexit-Ergebnisse würden von der Queen-Entscheidung nicht tangiert. Werfen wir einen Blick auf die Landkarte der Brexit-Voten vom 23. Juni 2016. Von hellgelb wie Glasgow bis tiefgelb wie Gibraltar hat mit 48,1 % die eine Hälfte für einen Verbleib in der EU gestimmt, von Hellblau wie Holyhead in Norwestwales bis tiefblau wie Holbeach am Wash mit 51,9 % die andere Hälfte für den Brexit. Es ergibt sich eine sehr klare Zweiteilung: für den Verbleib gelb wie Schottland und inneres Nordirland plus das Universitätsdreieck Cambridge – Oxford – London, für den Ausstieg blau wie restliches England einschließlich Cornwall sowie Wales.

Angenommen, Sie stünden jetzt an der Spitze der Regierung – wie, liebe Leserin, lieber Leser, füllen Sie dann nach diesem fiktiven März 2019 die entstandene Leerstelle, wie schaffen Sie eine Brücke zwischen den beiden antagonistischen Landesteilen? Sich ein Volk wählen kann der Prime Minister nicht, wie schon Bertolt Brecht angemerkt hat. Es ist leider umgekehrt: er muss mit dem schon vorhandenen Volk zurechtkommen, insbesondere wenn er gedenkt, sich wiederwählen zu lassen. Im Norden würde Nicola Ferguson Sturgeon, First Minister of Scotland und 2019 noch keine fünfzig Jahre jung, mit der nächsten Volksabstimmung über eine Abspaltung und einem Wiederhineinwechseln in die EU drohen. In Nordirland wäre der Karfreitagsprozeß obsolet, die Katholiken streben die Wiederherstellung der Zollunion mit der Republik Irland an, und könnte die IRA von Bomben wieder Gebrauch machen. Aus London wären entscheidende Teile der Finanzbranche nach Dublin, Amsterdam, Paris und Frankfurt abgewandert, die noch 2010 das Dreifache, nämlich britische 10 % gegenüber deutschen 3,7 %, zur Wertschöpfung beigetragen hatte.

Wie ersetzen Sie in dieser Situation die Königin? Wie erfinden Sie eine Maßstabsgemeinschaft als Grundlage einer Rechtsgemeinschaft und diese wiederum als Grundlage einer interaktiven Solidargemeinschaft, mit der sich die beiden großen Versprechen der Moderne von Wohlstand und Frieden realisieren lassen? Sie haben – in leicht verkürzter Perspektive dargestellt – ein Land vor sich, dessen Industrieprodukte nur bedingt weltmarktfähig sind. Dessen Bergwerke mit der kolumbianischen Kohle nicht konkurrieren können. Gegen dessen Handel und Dienstleistungen die EU gerade hohe Zollschranken errichtet hat. Dessen Landbevölkerung seit langem verarmt ist und gegen ‚die da oben‘ in der City of London wettert. Dessen Junge sich Häuser in Fahrradweite ihrer Jobs nicht leisten können. Dessen Gesundheitssystem nach dem Weggang der fast 40 % ausländischen Arbeitskräfte implodiert ist. In dem der Beatles-Triumph von Abbey Road (1969) ein halbes Jahrhundert her ist und der erste James-Bond-Triumph (1962) noch länger. Und nun fehlt auch noch die verbindende Klammer der Königin. Was tun?

2.2. Die Große Erzählung der Nationen oder:
Stilisierung von Besonderheit zur Einzigartigkeit

Der gängige Weg nach dem Wegbruch von Monarchien ist eine Große Erzählung. Macht greift ja auf Menschen zu, genauer auf deren Vorstellungen.[34] Macht durch Schwerter und Kanonen ist nur die eine Form. Soft Power durch das Bestimmen der Perspektive auf Geschichte ist unter Umständen ein sehr viel nachhaltigeres Instrument. Auch Nicht-Erzählen kann Teil einer Großen Erzählung sein – Am 18. Juni 1946 hätte das italienische Verfassungsgericht das Referendumsergebnis mitteilen sollen, was es aber nie tat. Diese Geschichte jedoch wird nur selten erzählt. (Autochthone Minderheiten wiederum brauchen keine Große Erzählung, sie kommen mit Kleinen Erzählungen aus. Vielleicht ist gerade dies ihre besondere Stärke.)

Vermutlich, liebe Leserin, lieber Leser, würde ‚Groß‘-Britannien in dieser Situation einen Popanz in die Welt setzen, der das Volk an die Größe der British Nation über Jahrhunderte hinweg erinnert. Aus der selbstverständlichen Besonderheit des britischen Weges (wie könnte er mit dem skandinavischen oder portugiesischen identisch sein?) stilisieren Sie jetzt eine Einzigartigkeit. Sie beschwören den Geist von Trafalgar, als eine rettungslos überlegene Spanische Armada unterging. Sie beschwören den Geist von Hamlet (und eher nicht[35] seines Vaters). Sie beschwören das Empire und überhaupt die British Superiority. Kurz: Sie fassen alle im Rückblick heroisch heraufstrahlenden Momente aus der Geschichte der Britischen Inseln zusammen. Sie verdunkeln den Blick auf die etwas weniger heroischen Momente. Und Sie begeistern Ihr Volk für die Glorious Nation.

Stets in der Hoffnung, dass die Stilisierung von Besonderheit zur Einzigartigkeit Ihr Volk vom Hunger ablenkt. Wie wollen Sie eine Entwicklung wie derzeit in Venezuela[36] in Ihrem – ich betone: rein utopischen – Britannien anders als durch eine entschlossene Stilisierung von nationaler Besonderheit zu globaler Einzigartigkeit verhindern?

2.3.  Politik als Spiel mit der Angst vor dem Fremden:
Taking our Country Back

In Ihrem Regierungsprogramm müssen Sie die Große Erzählung natürlich umsetzen. Ich schlage vor: indem Sie zunächst einmal – Britannia first – die Grenzen dicht machen für Ausländer. Auf den ersten Blick wäre in der Landwirtschaft bei ca. 1 % Ausländeranteil der Effekt unerheblich. Im Gastgewerbe sind rund 8 % Ausländer beschäftigt, im Großhandel 12 %, im Baugewerbe 6 %. Das müsste sich doch, denken Sie, bei einer Arbeitslosenquote von 5,2 % (Januar 2017) eigentlich kompensieren lassen durch einheimische Arbeitskräfte. Also hinweg mit den Ausländern!

Angst spiegelt existentielle Misslichkeiten; Politik und Angst gehören folglich immer zusammen, keineswegs nur bei Populisten. Politik kann aber auch zum Spiel mit Ängsten degenerieren. Ängste werden evoziert, um von tatsächlichen Problemen abzulenken. Xenophobie, Anti-Multikulturalismus, die Rettung des ‚Abendlandes‘ vor dem Fremden, insbesondere dem Islam, ist im derzeitigen Europa eine der Hauptquellen der allerorts grassierenden populistischen Parteien. Ob Marine Le Pen und ihre Nichte Marion Maréchal-Le Pen (FR), Christoph Wolfram Blocher (CH), Jörg Meuthen (DE), Kristian Thulesen Dahl (DK), Jarosław Aleksander Kaczyński (PL), Vaclav Klaus (CZ), Viktor Mihály Orbán (HU), Timo Soini (SF), Heinz-Christian Strache (AT), Geert Wilders (NL) etc. Sie alle setzen auf ‚Our Nation First‘.

In Großbritannien heißt eine 2011 gegründete Partei tatsächlich, als sei sie von Donald Trump erfunden worden: „Britain First“. Dies mag eine Splitterpartei von 1 % und weniger sein. Das EU-Votum der Briten aber war wesentlich von der UK Independence Party UKIP induziert worden, die die Briten 2014 als stärkste britische Partei ins Europaparlament gewählt hatten. Ihre Slogans wurden dann von Vertretern auch der Mitte-rechts- und Mitte-links-Parteien in der EU-Kampagne sehr wohl aufgegriffen und wurden am Ende mehrheitsfähig. Ich zitiere zu Britain First (ausnahmsweise) die englischsprachige Wikipedia:

Britain First is a far-right and British nationalist political party and movement formed in 2011 by former members of the British National Party (BNP). The party was founded by Jim Dowson, an anti-abortion campaigner linked to Ulster loyalist groups in Northern Ireland. […] Britain First campaigns primarily against multiculturalism and what it sees as the Islamisation of the United Kingdom, and advocates the preservation of traditional British culture. It attracted attention by taking direct action such as protests outside homes of Islamic extremists, its „Christian patrols” and “invasions” of British mosques. It has been noted for its online activism.

Ihr Slogan heißt „Taking our Country Back“. Fragt sich dreierlei: Wer ist „Wir“? Welches Land und zu welchem Zeitpunkt ist mit „zurück“ gemeint? Wo und was ist der Nullpunkt dieser Nationalideologie?

Soziologisch betrachtet, haben 1215 sehr wenige (von Immigranten abstammende) Barone die Magna Charta Libertatum König Johann erfolgreich abgetrotzt. Ihre Nachkommen haben die damals errungenen Standesrechte bis heute extrem erfolgreich verteidigen können. Frei im Sinne des berühmten Artikels 39 der Magna Charta waren damals nur die allerwenigstens Menschen auf den britischen Inseln; vermutlich eher im Promille- als im Prozentbereich. Im frühen 17. Jahrhundert deutete der Anwalt und Königsgegner Edward Coke die Magna Charta erfolgreich um zur angeblichen Grundlage allgemeiner Freiheitsrechte für sehr viele Menschen. Coke schrieb denn auch die erste Charta der Virginia Company, eine der Grundlagen der späteren US-Verfassung. Dieses Umdeutungsnarrativ ist der Grund, warum sich die Magna Charta auch in vielen heutigen Schulbüchern findet. Mit der Realgeschichte hat es wenig zu tun.

Tatsächlich ist die Magna Charta von 1215/25 ein zeittypisches Dokument der Exklusion der Vielen von Macht und Wohlstand durch Wenige. Über Jahrhunderte basierte der Wohlstand erst dieser wenigen, dann von immer mehr Briten auf der Ausbeutung Dritter. Insbesondere der sogenannten Dritten Welt zunächst durch die East und die West Indian Company, dann durch die Kolonien, heute durch einseitig den Norden bevorzugende GATT- und GATS-Verträge. Aber das frühere Kolonialgebiet Indien schlägt gewissermaßen zurück. Von den 20 Millionen Indern im Ausland leben alleine 2,2 Millionen in Großbritannien. Von den 7,6 Millionen Pakistanis im Ausland sind es sogar 1,5 Millionen.

Ein Blick auf den Anteil ausländischer Arbeitskräfte in Großbritannien zeigt bei den einfachen, auch für Ungelernte machbaren und unterdurchschnittlich ertragreichen Sektoren erschreckende Zahlen: 42 % und 36 % bei elementaren Tätigkeiten, 35 % bei Reinigung, 30 % bei der Essenszubereitung. Ob diese Tätigkeiten wohl gemeint sind bei Britain First’s Slogan „Taking our Country Back“? Das Oxford Migrant Observatory stellt fest: „A significant share of relatively skilled recent migrants have taken up employment in less-skilled occupations in the UK”.[37] Bei komplexeren Tätigkeiten als Traktorfahren sind Ausländer eher weniger an der Bruttowertschöpfung beteiligt, wohlgemerkt Ausländer auch aus der EU, also auch die hochgebildeten jungen Polen, die es nach 1990 millionenfach in die englischsprechenden Länder gezogen hatte.

Liebe Leserin, lieber Leser, schließen wir unseren utopisch-heuristischen Ausflug in ein Britannien ohne Königin, aber mit „Britain First“ in der Downing Street 10, ab. Die schlechtbezahlten und keinerlei soziales Prestige versprechenden Fundamente Ihrer ‚groß‘-britischen Wirtschaft würden sofort zusammenbrechen, wenn Sie der „Britain First“-Kampagne hinreichenden Raum verschaffen würden, um den ausländischen Arbeitnehmer solange Angst zu machen, bis sie sich entweder noch stärker in ihr Parallelghetto zurückziehen oder das Land ganz verlassen. 2019 bliebe Ihnen realistisch gar nichts anderes übrig, als ihr Land nicht auf dem Popanz einer so nie existenten Grande Nation, wie die Franzosen die ihre nennen, aufzubauen, sondern auf einem genau gegenläufigen Modell, dem der Interkulturalität. Damit aber würden Sie an den systemischen Fundamenten des Nationalstaates rütteln.

3.   Interkulturalität als systemische Herausforderung für Europas Nationalstaaten

Im Jahr der Pariser Studentenunruhen macht Gilles Deleuze (1925–1995) in Différence et répétition 1968 | Differenz und Wiederholung darauf aufmerksam, dass Differenz traditionell von Identität abgeleitet werde, dass also Identität als Grundgröße diene. Die Aussage „X ist anders als Y“ gehe davon aus, dass beide über zumindest relativ stabile Identität bzw. Identitäten verfügen. Dem setzt Deleuze die Überlegung entgegen, dass Identitäten die Effekte von Differenz seien, Identitäten stellten weder logisch noch metaphysisch ein a priori zur Differenz dar. „Nicht die Differenz setzt den Gegensatz voraus, sondern der Gegensatz die Differenz; und weit davon entfernt sie aufzulösen, […], entstellt und verfälscht der Gegensatz die Differenz“ (Deleuze 1992, S. 77f). Die Thematik von Zwang und Freiheit zeigt sich für Deleuze auch beim Künstler.

Das Kunstwerk besteht aus ständigen Asymmetrien, Verschiebungen, wo sich ein Exemplar einem anderen akkommodiert und gleichzeitig darüber hinausgeht. Aus diesen immanenten Ungleichgewichten zwischen den Exemplaren ergibt sich dann die gesamte Figur. Es springt bei der künstlerischen Produktion gleichsam immer mehr heraus als in den jeweiligen Exemplaren, den verursachenden Elementen für bestimmte Wirkungen, angelegt war. Es gibt so ein Mehr der Wirkungen im Verhältnis zu den Ursachen.[38]

Wenn nun aber Differenz und Identität Größen in einem Vektorsystem mit immanenten Ungleichgewichten sind, dann wäre auch das staatsregulierte Zusammenleben neu zu denken. Nicht mehr von Identität her und linear, sondern als Prozess (Abdallah-Pretceille 1985b) in einem Fließungleichgewicht von Differenzen und Identitäten.

Welche Neue Große Erzählung wäre hierfür geeignet? Strukturell müsste eine Neue Große Erzählung ja genau gegenläufig zum Modell der Erzählungen vom ethnisch und sprachlich homogenen Nationalstaat aufgebaut sein. Sie müsste sich eher an den Kleinen Erzählungen der Minderheiten und ihrer friedlichen Koexistenz in einem pluriethnischen und plurilingualen Gesellschaftsverbund orientieren.

In Fernand Braudels (1902–1985) Grammaire des civilisations (1963, 1987) war für den Nationalstaat kein Raum. So wie ja auch der aus Syrien immigrierte Erfinder der „europäischen Leitkultur“ Bassam Tibi das ganze Europa im Auge hatte. Das umgehend versuchte Herunterbrechen auf eine „deutsche Leitkultur“ als „idealisierte Selbstbeschreibung vor einem historisch nicht unproblematischen Hintergrund“ (Ian Buchanan) musste notwendig scheitern. Braudels Einteilung der Welt in Zivilisationskreise sollte später die Blaupause für Huntingtons Clash of Civilizations (1993, 1996) liefern. Für Braudel bestand Europa aus genau zwei Zivilisationen. Die eine hieß lapidar L’Europe, die zweite nannte er (politisch verständlich, aber nicht völlig logisch) L’autre Europe : Moscovie, Russie et U.R.S.S.[39] In unserm Kontext relevant ist, dass den Mittelmeerhistoriker Braudel, dessen Berufsleben als Schullehrer im Maghreb begann, die bloße Ereignisgeschichte (histoire événementielle) deutlich weniger interessierte als die unterste Geschichtsschicht (géohistoire) und die mittlere Schicht (longue durée). Was sind da Nationalstaaten anderes als ephemere Erscheinungen? Gleichzeitig zeigt das Werk Braudels, dass es keinerlei fiktiven Nullpunkt für die Entwicklung oder gar für eine Statik europäischer Identität gibt, sondern dass jede Person und jede Gruppe Produkt einer unterliegenden Multiplizität und Diversität ist, die ihrerseits in ständiger Bewegung und in Aushandlungsprozessen begriffen ist.

Solche Aushandlungsprozesse werden in Gesetzen kodifiziert. Diesen geht das Recht voraus, die Summe der gemeinsam angenommen und gemeinsam geteilten Bewertungsmaßstäbe für die Gut-Ungut-Einteilung menschlicher Verantwortlichkeiten, funktional die nicht hintergehbare Grundlage für die Solidargemeinschaft einer hochgradig arbeitsteiligen und komplex organisierten Gesellschaft. Wenn Gesellschaften Inseln oder Leibniz’sche Monaden wären, voneinander durch hinreichend Wasser getrennt um voneinander unabhängig existieren zu können, könnte die Zivilreligion in Rousseaus Gesellschaftsvertrag durchaus funktionieren. Liest man Rousseau jedoch etwas genauer, beschreibt er bereits 1772 ein wesentliches Dilemma für die heutigen Rechtssysteme der unaufhebbar aufeinander verwiesenen europäischen Nationalstaaten. Ausgehend von der Überlegung, dass „jamais État ne fut fondé que la religion ne lui servît de base | dass noch jeder Staat auf der Grundlage von Religion errichtet wurde“, weist er auf die Kollateraleffekte einer „religion civile | Zivilreligion“ hin:

La religion, considérée par rapport à la société, qui est ou générale ou particulière, peut aussi se diviser en deux espèces: savoir, la religion de l’homme, et celle du citoyen. […] La seconde est bonne en ce qu’elle réunit le culte divin et l’amour des lois, et que, faisant de la patrie l’objet de l’adoration des citoyens, elle leur apprend que servir l’État, c’est en servir le dieu tutélaire. […] inscrite dans un seul pays, lui donne ses dieux, ses patrons propres et tutélaires. Elle a ses dogmes, ses rites, son culte extérieur prescrit par des lois: hors la seule nation qui la suit, tout est pour elle infidèle, étranger, barbare; elle n’étend les devoirs et les droits de l’homme qu’aussi loin que ses autels. Telles furent toutes les religions des premiers peuples, auxquelles on peut donner le nom de droit divin civil ou positif. | In ihrer Beziehung zur allgemeinen oder besonderen Gesellschaft, lässt sich die Religion in zwei Gattungen teilen: in die allgemein menschliche und die staatsbürgerliche Religion. […] Die zweite bietet den Vorteil, dass sie Gottesdienst und Liebe zu den Gesetzen in sich vereint. Sie will, dass dem Vaterland Verehrung entgegengebracht wird, und belehrt die Staatsbürger, dass Dienst am Staat Gottesdienst ist. […] [Sie] gibt einem einzigen Land, für das sie Staatsreligion ist, seine eigenen Götter und Schutzpatrone. Sie hat ihre Dogmen, Gebräuche und gesetzlich vorgeschriebenen äußeren Kulthandlungen. Dem Volk, das seine Religion ausübt, erscheint jedes andere als ungläubig, fremd, barbarisch. Pflichten und Rechte des Menschen dehnt es nicht über den Bereich seiner Altäre aus. Die Religionen der ältesten Völker fallen sämtlich unter diese Gattung; man kann sie als das staatsbürgerliche oder positive göttliche Recht bezeichnet.“[40]

Rousseaus Formel „Pflichten und Rechte des Menschen dehnt es [das jeweilige Volk] nicht über den Bereich seiner Altäre aus.“ beschreibt geradezu prophetisch und in aller Kürze die xenophobe Exklusion, die aus der Konstruktion des Nationalstaates notwendig folgt. Dieser definiert Minderheitenschutz lapidar als Schutz der Mehrheit vor ihren Minderheiten. (Deleuze und sein Kollege Félix Guattari ermutigen demgegenüber Minderheiten, die Differenz, die sie von der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet, aktiv anzunehmen und als kreative Dynamik einzusetzen um Neues aus ihr zu entwickeln. In der Tat liefert Europas Geschichte vielfältige Belege dafür, dass migrationsbedingte Impulse eine Schlüsselfunktion für Innovationswellen hatten und haben)

Das aus dem Nationalansatz folgende Abstreiten der Menschhaftigkeit bei Menschen anderen Glaubens und anderer Rechtsprinzipien können wir 2017 an vielen Stellen Europas beobachten – ob bei Pegida in Dresden, bei den Rosenkranzmärschen entlang der polnischen Grenzen am Jahrestag der Seeschlacht von Lepanto (7. Oktober 1571) oder in den (Un-)Sozialen Medien. Es hat sich mit dem ganz anders motivierten Zorn der Peripherien[41] schon längst unheilvoll gepaart. Bei den Bundestagswahlen am 24. September 2017 hat die Alternative für Deutschland in Sachsen die CDU bei den Zweitstimmen überholt und wurde stärkste Kraft im Land. In Warschau oder Budapest stellen Kräfte, die Xenophobie schüren und nutzen, die Regierung. Von einem europäischen Acquis Communautaire auf der Ebene einer alle Bürger und ihre Staaten umfassenden Verinnerlichung der Menschen- und Minderheitenrechte kann nicht die Rede sein. Eher von einem partialkollektiven und von einschlägigen Parteien politisch gut genutzten Stemmen gegen den konstanten, mit dem Mythos vom immer gleichen Volk inkompatiblen Prozess des Werdens und Vergehens nach dem Motto „England | Frankreich | Österreich | Deutschland | Polen | Ungarn soll so bleiben, wie es nie war“.[42] Die Situation eines Landes am Ende einer solchen Entwicklung hat Morgenstern eindrücklich gefaßt:

Der Zaun indessen stand ganz dumm,
mit Latten ohne was herum

Wie aber nun lässt sich der Morgenstern‘sche „Zwischenraum“, dem die Latten nicht fehlen bzw. Lichtenbergs „Röhren“ als das funktional notwendige Andere für Errichtung der Maßstabsgemeinschaft und Funktionieren der Solidargemeinschaft, wie lassen sich in die Neue Große Erzählung Leerstellen integrieren, die von den Bürgern selbständig in durchaus unterschiedlichen Varianten bottom-up gefüllt werden können, aber eben nicht von oben top-down ‚gestopft‘ werden müssen?

Abzusehen ist, dass Migration in absoluten wie in relativen Zahlen auch weiterhin das Bisherige immer stärker übersteigt. Sie ist eine große, ja sogar extreme Herausforderung für die Nationen Europas. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks UNHCR waren Ende 2015 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht. Ein fiktives Land nur für Flüchtlinge wäre auf der Weltkarte der größten Länder auf Platz 21 zwischen Großbritannien, Frankreich und Italien. 21,3 Millionen Flüchtlinge hielten sich in fremden Ländern auf. 40,8 Millionen wurden innerhalb ihrer Heimatstaaten vertrieben. Weitere 3,2 Millionen warteten im Ausland auf Entscheidungen über ihre Asylanträge. Laut UNHCR ist etwa die Hälfte der Flüchtlinge jünger als 18 Jahre – ein virtuelles Land in der Größe Rumäniens. Die anhaltende politische Instabilität zahlreicher Regionen, anthropogene (Indonesien: Haze) und globale Klimaveränderungen sowie das hohe Bevölkerungswachstum in Afrika lassen für die mittelfristige Zukunft noch weit größere Migrationswellen nach Europa erwarten. (Beispielsweise wächst Niger um 3,9 % p. a. entsprechend einer Verdoppelung etwa alle 20 Jahre bei bereits jetzt eklatantem Trinkwassermangel.) Interkulturelle Fragen werden daher auf zwei Ebenen von besonderer Wichtigkeit sein: auf der eher handwerklichen der Interkulturellen Kommunikation und auf der ungleich anspruchsvolleren abstrakten Ebene der Staatsgrundlagen.

Häufig diskutiert wird über die Anforderung an Menschen aus traditionalen Verhältnissen, Abschied zu nehmen von clan- und dorfzentrierten bonding-Systemen (Putnam 1993) und zum westlichen, auf Leistungsanerkennung orientierenden bridging-System zu wechseln. Die Überwindung tradierter Rollenbilder ist schwierig. Dies gilt nicht zuletzt im Genderbereich.[43] Vogt (2013) verweist auf die Funktion von Sprache als Grundvoraussetzung für partizipative Demokratie und individuelle Mündigkeit. Mag auch etwa in Frankreich die Integration der 1960 ff. Angekommenen alles andere als positiv vollzogen sein, so kann politisch für das Feld der Interkontintentalmigration zwischenzeitlich gelten, dass zumindest jene unter den europäischen Nationalstaaten, die de facto hohe Immigrationsraten aufweisen, sich der Notwendigkeit bewusst sind, zu differenzieren zwischen temporär Aufzunehmenden und Menschen mit langfristiger Bleibeabsicht: Letzteren sind zureichende Integrationsmöglichkeiten zu bieten, wenn eine Implosion des Solidarsystems und im Übrigen auch des politischen Systems verhindert werden soll. Mag auch die Relevanz der Mentalitätsräume im nationalen Recht bei den Einbürgerungsprozessen etwa der Bundesrepublik bislang fast völlig vernachlässigt worden sein, so sind doch hier und in anderen Staaten Einwanderungsgesetze zumindest in Diskussion.

Nur selten jedoch wird bislang diskutiert über die Anforderung an die bislang (und zunehmend mehr) national verfassten Staaten zu einem Recompose Europas im Anschluss an die Braudel’sche Perspektive. Statt wie bislang Differenz als Resultante von Identität zu fassen, gälte es umgekehrt – mit dem Deleuzschen Ansatz – Identität als Resultante von Differenz zu fassen und den Interkulturalitätsprozeß proaktiv zur Staatsbildung zu nutzen. Dafür wären diejenigen Grundlagen ihres Rechtssystems einer grundlegenden Revision zuzuführen, die (mit Rousseau und seiner prophetischen Formel „Pflichten und Rechte des Menschen dehnt es [das jeweilige Volk] nicht über den Bereich seiner Altäre aus“ zu sprechen) aus einem Staatsbürgerverständnis des offensichtlich sehr, sehr langen 19. Jahrhunderts stammen. Noch immer ist die Aufforderung von 1949 aus Art. 1 Grundgesetz (sinngemäß: Die Würde eines jeden Menschen auf deutschem Staatsboden ist unantastbar) keineswegs eine von allen in der Bundesrepublik lebenden Menschen internalisierte, handlungsleitende Norm. Die vermutlich deutlich größere Aufgabe besteht also im Inneren. Es gilt, die Rückbindung mündiger Bürger an unsere abstrakt-immaterielle, solidarische Rechtsgemeinschaft stärker und ohne den Popanz einer Alten Großen Erzählung zu leisten.

Paradigmenwechsel und die Rückführung überholter Strukturen in Ausgangsmaterial für neues Leben sind einigermaßen leicht durchzuführen, wenn Revolution, Krieg und Seuchen zu Hilfe kommen. Evolutionäre Paradigmenwechsel in Friedenszeiten, die den Faktor Hartnäckigkeit des positiven Rechts auf Nationalstaatsebene mit ins Kalkül nehmen müssen, sind bedeutend schwieriger durchzuführen. Zumindest den Anfang machen könnte eine Neue Große Erzählung von der europäischen diversité laquelle s’incarne dans l’originalité et la pluralité des identités ainsi que dans les expressions culturelles des peuples et des sociétés qui constituent l’Europe | von der Vielfalt, die durch die Einzigartigkeit und Pluralität der Identitäten verkörpert wird und durch die kulturellen Ausdrucksformen der Völker und Gesellschaften, aus denen Europa besteht. Mit dem Bild von Morgenstern zu sprechen: durch den Übergang vom nationalstaatlichen horror vacui zu einer Öffnung für den „Zwischenraum, hindurchzuschaun“ auf die Chance, die differenzbedingte Impulse für Innovationswellen hatten, haben und mit aller Sicherheit haben werden. WIE ein Staat verfasst sein könnte bzw. sollte, der den hier skizzierten Paradigmenwechsel umsetzt, wäre zu diskutieren.

Literatur

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Anmerkungen

[1]     Carpenter-Boggs et al. 2000.

[2]     Schäfer 2015.

[3]     Infolge des Eigentumssystems der todten Hand (manus morta) hatten beispielsweise im neuen Bairischen [später Bayerischen] Königreich 56 % des Territoriums kirchlichen Körperschaften gehört; ähnlich außerhalb des Reiches im etwas später mediatisierenden Dänemark.

[4]     kritisch z.B. Neumann 2002.

[5]     Rousseau 1772: Chapitre VIII : Religion civile. Vgl. unten Abschnitt 3.

[6]     Schieder 2001. Zit. nach . Neumann 2002, S. 9.

[7]     Münkler, Herfried (Hrsg.) (1996): Bürgerreligion und politische Bürgertugend. Debatten über die vorpolitischen Grundlagen moralischer Ordnung. S. 7 ff.

[8]     Für welche die Schweiz – mit ihrem gemeindebürgerlichen bottom-up-Ansatz – den schönen Terminus „citoyenneté“ benutzt. Im genauen Gegensatz hierzu baut die ungarische Fidesz im Ormánság derzeit neofeudale Untertanen-Verhältnisse durch ihren Kommunaldienst auf.

[9]     In seiner bekannten Definition von Nation verweist Georg Elwert auf einen „überzeitlichen Charakter“ und den intentionalen Bezug zum Staatsapparat (vgl. Max Weber 1922: 218; Rainer M. Lepsius 1966: 22): „Nation ist eine einen überzeitlichen Charakter beanspruchende und auf einen vorhandenen oder erstrebten Staat hin orientierte gedachte Ordnung mit höherrangigen reziproken Verpflichtungen und familienerfassenden Zugehörigkeiten.“ (Elwert 1997, S. 124).

[10]    Rousseau, Jean-Jaques (1772): Chapitre VIII : Religion civile, Textziffer 15.

[11]    Fassbender [St. Gallen] 2017.

[12]    Anderson 1983, vgl. James 1996, Elwert 1989. Schon Ernest Renan sprach in seinem epochemachenden Vortrag Qu’est-ce qu’une nation?  vom 11. März 1882 an der Sorbonne von der Nation (und damit auch dem Nationalstaat) als einem täglichen Plebiszit, welchem gleichermaßen das Erinnern des Verbindenden und das Vergessen des Trennenden eigen ist.

[13]    Heckmann 1991, Heckmann 1992.

[14]    Initiative Serbski Sejm 2017.

[15]    Vogt u.a. 2009.

[16]    Bayertz 1998.

[17]    Vogt, Fritzsche, Meißelbach 2016, S. 62.

[18]    Christian Morgenstern: * 6. Mai 1871 in München; † 31. März 1914 in Untermais [heute Meran].

[19]    Tucholsky, Kurt [Kaspar Hauser] 1931. Vgl. auch Kurt Tucholsky [Peter Panter] (1928): »Mama! Wo kommen die Löcher im Käse her –?« Vossische Zeitung, 29.08.1928.

[20]    Lichtenberg 1775 – 1776: Sudelbuch E, Nr. 35.

[21]    Dumitriu 1981, S. 34.

[22]    Böckenförde 1976, S. 60.

[23]    Der Terminus „Interkulturalität“ eignet sich nur bedingt zur Beschreibung der durch Migration entstehenden Probleme. Wie sich an der falschen Übertragung ins Deutsche von Samuel Huntingtons Clash of Civilizations (1993 bzw. 1996) als „Kampf der Kulturen“ statt als „Zusammenprall von Zivilisationen“ deutlich zeigt, sollte eher von „Intercivilisationality | Interzivilisationalität“ die Rede sein. Dies jedoch wäre ein schwer verständliches und im Übrigen auch in Fachkreisen kaum benutztes Wortungetüm („intercivilisational“ immerhin 2.250 Nachweise im Netz | „interzivilisationär“ 1; „intercivilisationality“ 3 | „Interzivilisationalität“ 0).

[24]    u.a. The Silent Language 1959, The Hidden Dimension 1966, Beyond Culture 1976, Understanding Cultural Differences – Germans, French and Americans 1990.

[25]    Favre 1996; Hale 1997.

[26]    Abdallah-Pretceille 1985b, Dervin et al. 2011.

[27]    Vgl. Vogt 2017a sowie Vogt, Fritzsche, Meißelbach 2016.

[28]    Zu einem Überblick über die Termonologien und die methodischen Ansätze siehe Vogt et al. 2016; Kapitel 2.

[29]    https://www.unesco.de/kultur/kulturelle-vielfalt/konvention.html [15.12.2017].

[30]          vgl. Pfeil 2018, Festschrift Pan, EJM 3-4/2018 (in Vorbereitung).

[31]          Wie Italien am 2. Juni 1946 ohne Beteiligung der Südtiroler Deutschen und der Ladiner.

[32]          Kantorowicz 1957.

[33]    Ihre Folgen sollten ja auch in Südtirol gravierend werden; 86 % der deutschsprachigen Südtiroler votierten bekanntlich für die sogenannte Option von 1939.

[34]    zu Vorstellungswelten Vogt, Fritzsche, Meißelbach 2016, S. 85 ff.

[35]    Sie sollten vielleicht unerwähnt lassen, dass 1066 bei Stamford Bridge und Hastings [im 5. Jahrhundert gekommene] Dänen-Nordmänner gegen [im 9. Jahrhundert gekommene] Dänen-Nordmänner gegen [neu ins Land kommende] Dänen-Nordmänner kämpften. Die namensgebenden Romano-Briten dagegen gehörten damals wie heute zur Unterschicht. Sie wurden und werden auch nach 1066 von den Rolloniden über die bretonischen FitzAlan [Stuart] bis zu den heutigen Saxe-Coburg-Gotha-Windsor fast ausschließlich von Immigranten bzw. deren Nachkommen regiert.

[36]    Das 31-Millionen-Land Venezuela verfügt über die größten Ölreserven der Welt. Infolge sozialistischer Misswirtschaft und Korruption ist es auf die vom Volksmund so genannte „Maduro-Diät“ gesetzt. Wie die FAZ am 13.04.2017 berichtet, haben nach einer Umfrage der drei wichtigsten Universitäten des Landes drei Viertel der Venezolaner 2016 mindestens acht Kilogramm an Gewicht verloren. In diesem Jahr hat sich die Versorgungslage Venezuelas abermals verschlechtert. Der Staat ist am Kollaborieren, marodierende Banden durchziehen die Straßen, die logischerweise keine Steuern zahlen und damit den Staat weiter unterminieren.

[37]    The growth in employment shares of foreign-born workers in recent years has been fastest among lower-skilled occupations and sectors. In 2002, there was only one low-skilled occupation (food preparation trades) in the list of top ten occupations with the highest shares of foreign-born workers. As shown in Table 1, there are now at least five low-skilled occupations on this list (i.e. elementary process plant, process operatives, cleaning and housekeeping managers, elementary cleaning, food preparation and hospitality). In 2015, 42% of workers in elementary process plant occupations (e.g. industry cleaning process occupation and packers, bottlers, canners and fillers), 36% of workers process operatives (i.e food, drink and tobacco process; glass and ceramics process operatives; textile process operatives; chemical and related process operatives; rubber and plastic process operatives; metal making and treating process and electroplaters) and 35% in cleaning and housekeeping managers and supervisions were foreign-born. The increase in the share of migrant labour has been greatest among process operatives (e.g. food, drink and tobacco process operatives, plastics process operatives, chemical and related process operatives) up from 8.5% in 2002 to 36% in 2015. As discussed by Aldin et al. (2010) a significant share of relatively skilled recent migrants have taken up employment in less-skilled occupations in the UK.  vgl. http://www.migrationobservatory.ox.ac.uk/resources/briefings/non-european-labour-migration-to-the-uk/.

[38]    Kerber, Harald (2000): Zum Begriff der Differenz bei Hegel, Derrida und Deleuze. Freie Universität Berlin.

[39]    L’Europe figurierte zusammen mit L’Amérique unter Les civilisations européennes, vor die Braudel Les civilisations non européennes als offensichtlich ältere stellte, namentlich L’Islam et le monde musulman, Le continent noir sowie L’Extrême Orient. Außerhalb der (1) civilisations non européennes und (2) européennes stellte Braudel (3) L’autre Europe : Moscovie, Russie et U.R.S.S. – in Zeiten der Kubakrise offensichtlich eine Art von europäischer ‚Nicht-Zivilisation‘. Die Trennung zwischen dem Europa des positiven Rechts und dem Raum des russischen Rechtsverständnisses leuchtet historisch durchaus ein (hierzu Paitschadse 2018; in Vorbereitung).

[40]    Rousseau, Jean-Jacques (1772): Du Contrat Social ou principes du droit politique. Amsterdam. Chapitre VIII : Religion civile, Textziffer 15. Nachdruck Amsterdam 2008, S. 151. Dt. Fritz Roepke, Leipzig 2011. S. 83.

[41]    Vogt 2017b.

[42]    vgl. Vogt 2017c und Rehberg 2017.

[43]    So gehört Georgien zu den Transformationsländern mit einer ganz erheblichen Rate an von Frauen herbeigeführten Scheidungen, die aus den patriarchal dominierten Systemen einfach aussteigen und aufgrund von Bildung in einigen Regionen auch aussteigen können, während an der Grenze zu Aserbaidschan Kinderheiraten mit Frühschwängerungen noch häufig sind. Tarashlavili (in Arbeit).