Das Flüchtlingsgeschehen 2015 als Auslöser
Die Bundesrepublik Deutschland wurde 1949 bewusst als „Staatsfragment“ gegründet mit einem (schwer verständlichen) „Offensein, [das] nicht durch sich selber ausgeschlossen ist“ (Carlo Schmid). Sie wurde 1990 ff. lediglich räumlich erweitert unter Ausklammerung vieler Problemkreise und unter Aussetzung einer vertieften Verfassungsdiskussion. Ein Vierteljahrhundert nach Wiedervereinigung, Vertrag von Maastricht sowie „Idealisierung“ des Washington Consensus (Stieglitz 2002; Ther 2016) ist die Bundesrepublik derzeit zum Schauplatz einer intensiven Auseinandersetzung um die geistigen und normativen Grundlagen unseres Zusammenlebens geworden.
Das Flüchtlingsgeschehen 2015 war zwar nur Auslöser der Auseinandersetzung, nicht ihr Grund. Die Frage nach gelingender interkultureller Integration aber ist die Schlüsselfrage für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bei einer zentralen gegenwärtigen politischen Herausforderung unseres Landes, der diskursiv-normativen und politischen Transformation der Bundesrepublik in ein Einwanderungsland und der damit verbundenen Sorge um ein gelingendes Zusammenleben angesichts einer zunehmenden Vielfalt von Herkunft, Tradition, Kultur und Religion in unserem politischen Gemeinwesen.
Der Blick in die Geschichte der deutschen Nachbarstaaten von Lettland über Polen bis Ungarn und die Türkei um 1930 zeigt, wie schnell sich ein Umkippen in autoritäre Staatsformen vollziehen kann. Tatsächlich blieb demokratische Gewaltenteilung unter all den 1918 neugegründeten Demokratien nur in den beiden auch normativ plurikulturellen Staatsgebilden Suomi-Finland und Tschechoslowakische Republik erhalten. 2017 zeigt die ‚paneuropäische Union der Nationalisten‘ wiederum (wie um 1930) in Polen, wiederum in Ungarn, wiederum in der Türkei, diesmal auch der Brexiteers, welch’ Ausnahme eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung ist, die allen Bürger ein gemeinsames Haus auf der Grundlage gemeinsam geteilter Werte und ohne den Popanz einer singulären Nationalkultur[1] anzubieten vermag.
Eine systemisch notwendige Auseinandersetzung
Auseinandersetzungen wie die derzeitige sind systemisch notwendig. Unterhalb der Ebene verfasster Staatlichkeit laufen stets eine Vielzahl gesellschaftlicher Transformationsprozesse ab, die von Zeit zu Zeit die Machtverteilung in Frage stellen und nach Grundsatzdiskursen verlangen. Eine parlamentarische Demokratie gelangt dann aber an ihre Grenzen, wenn die Vielschichtigkeit der gesellschaftlichen Transformationsprozesse nicht hinreichend abgebildet wird in zyklisch-ritualisierten Wahlkämpfen, vom einfachen Wechsel gemäßigt-konservativ zu gemäßigt-sozialistisch (wie nach 1968 im Westen, zurück dann 1982 und wieder zurück 1998), von medialen Großerzählungen. Und eben dies ist derzeit offensichtlich der Fall.
An kaum einer Stelle der Bundesrepublik wird das Maß der Aufkündigung gesellschaftlichen Zusammenhalts durch breite Bevölkerungsteile so deutlich wie im Freistaat Sachsen. Heidenau, Bautzen, Schneeberg sind zu Synonymen für eine Subkultur von rechts geworden, Leipzig-Connewitz für eine Subkultur von links. Sie stellen nicht nur „die staatliche Autorität in Frage“ (Markus Ulbig), sondern weit mehr noch die Grundlagen eines Zusammenlebens auf Basis der Art. 1–19 Grundgesetz, dem Person-Sein aller Menschen, mit oder ohne deutschen Pass.
In Sachsen ist daher Forschung zu gesellschaftlichem Zusammenhalt und (kultureller) Integration dem staatlichen, kommunalen, korporativen, kirchlichen und zivilgesellschaftlichen Handlungsbedarf besonders nahe. Sofern sie diesen Handlungsbedarf auch tatsächlich konzeptionell integriert und im Ergebnishorizont avisiert.
Forschungsverbund Chemnitz – Dresden – Görlitz – Leipzig – Rothenburg
Aus diesem Grund hat sich ein überparteilicher Forschungsverbund von Vertretern der Technischen Universität Chemnitz, der Technischen Universität Dresden, der Hochschule Zittau/ Görlitz, des Instituts für kulturelle Infrastruktur Sachsen (ebenfalls Görlitz), der Universität Leipzig und der Polizeihochschule Rothenburg gebildet. Er wirkt schon seit längerem, teils seit 1994, zusammen:
Prof. Dr. habil. [Sozialanthropologie] Heidrun Friese
Institut für Germanistik und Kommunikation
der Technischen Universität Chemnitz
Professur Interkulturelle Kommunikation.
Prof. Dr. [Politologie] Stefan Garsztecki
Institut für Europäische Studien
der Technischen Universität Chemnitz
Professur Kultur- und Länderstudien Ostmitteleuropas
Dekan der Philosophischen Fakultät
Prof. Dr. habil. [Soziologie] Gisela Thiele
Alt-Dekanin der Fakultät Sozialwissenschaften, Görlitz,
der Hochschule Zittau/Görlitz
Professur Jugend- und Familiensoziologie sowie Gerontologie
Prof. Dr. habil. [Urbanistik] Prof. h.c. Dr. h.c. Matthias Theodor Vogt
Fakultät Management- und Kulturwissenschaften, Görlitz,
der Hochschule Zittau/Görlitz
Professur Kulturpolitik und Interkulturelle Zusammenarbeit
Direktor, Institut für kulturelle Infrastruktur Sachsen
Prof. Dr. hab. [Britannische Sprachen] hab. [Sprachwiss.] Sabine Asmus
Forschungsstelle für Minderheitensprachen
der Universität Leipzig
Prof. Dr. habil. [Slavistik] Eduard Werner / Edward Wornar
Institut für Sorabistik
der Universität Leipzig
Professur für Sorabistik
Prof. Dr. habil. [Soziologie] Anton Sterbling
Hochschule der Sächsischen Polizei (FH), Rothenburg
Professor für Soziologie und Pädagogik
u.a.
Charakteristik
Drei Aspekte charakterisieren den Forschungsverbund. An sich sollte es (wie auch die annähernde Genderparität) selbstverständlich[2] sein, ist aber im geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Rahmen eher eine Ausnahme, dass der Forschungsverbund-Diskurs ganz unterschiedliche Sichtweisen integriert und thematisiert – die einen sind aktive Mitglieder von Union[3] und SPD, andere stehen den Grünen oder der FDP oder auch keiner der Parteien nahe; alle sind in hohem Maße nicht nur der reflektierenden Beobachtung, sondern auch der zivilen Mitgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf dem Boden des Grundgesetzes verpflichtet.
Zum zweiten sind alle Mitglieder des Forschungsverbundes hochgradig integrationserfahren auf wissenschaftlicher wie auf persönlicher Ebene; jeder ist in der einen oder anderen Form migriert; die Familie des einen ist zweisprachig, die eines anderen dreisprachig; zwei sind gebürtige Auslandsdeutsche; alle haben in ganz unterschiedlichen Disziplinen zu Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhangs gearbeitet. In ihren Blick auf Deutschland fließen jene internationalen Erfahrungen ein, ohne die weder früher noch heute Wissenschaft denkbar und auf die bundesdeutsche Politik gegenwärtig in besonderem Maße angewiesen ist.
Zum dritten sind Kommunikations-Strategien und -Haltungen (alternative facts etc.) ein zentrales Problem des gegenwärtigen öffentlichen Diskurses. Alle Mitglieder des Forschungsverbundes verfügen in der entscheidenden intra- und interkulturellen Dimension der gegenwärtigen politischen Herausforderung – der o.g. diskursiv-normativen und politischen Transformation der Bundesrepublik in ein Einwanderungsland – über die notwendigen akademischen Kompetenzen entweder mit den expliziten Denominationen Interkulturelle Kommunikation, Interkulturelle Zusammenarbeit (im Übrigen die beiden bislang einzigen Denominationen zur Interkulturalität in Sachsen), Kultur- und Länderstudien, Kultursoziologie, Minderheitensprachen und -kulturen, oder mit den Forschungsgebieten Grenzlandsoziologie, Grundsatzfragen transnationaler Polizeiarbeit etc.
Eine erste Bestandsaufnahme
Der Forschungsverbund hat, insbesondere im Zusammenwirken von Institut für kulturelle Infrastruktur Sachsen und Institut für Politkwissenschaft der Technischen Universität Dresden, im Herbst 2016 eine erste Bestandsaufnahme von Theorien und Prozessen verbunden mit konkreten Handlungsempfehlungen vorgelegt:
Matthias Theodor Vogt, Erik Fritzsche, Christoph Meißelbach:
Ankommen in der deutschen Lebenswelt. Migranten-Enkulturation und regionale Resilienz in der Einen Welt
Geleitwort von Rita Süssmuth und Nachwort von Olaf Zimmermann.
Europäisches Journal für Minderheitenfragen Vol. 9 No. 1-2 2016.
Berliner Wissenschafts-Verlag 2016
Vorstellung der Studie durch Rita Süssmuth und Olaf Zimmermann am 6. Oktober 2016 in Berlin unter http://kultur.org/forschungen/merr/
Auszug unter: http://kultur.org/uploads/forschungen/merr/Vogt_Ankommen_Auszug-Kulturrat_EJM-2016.pdf
Ausgangspunkt der Studie war die Bitte der Sächsischen Staatskanzlei eine Woche nach Heidenau und eine Woche vor dem Budapester Westbahnhof, den Hintergründen sächsischer Fremdenfeindlichkeit nachzugehen. Im Verlauf der Recherchen zeigte sich, dass seitens der Politik und seitens der sozialwissenschaftlichen Theorie das kulturelle Potential für gelingende Integration stark unterschätzt wird.
Sachsens Landespolitik hat sich seit 1990 zwar intensiv um eine Ausprägung sächsischer Identität, weniger aber um eine Integration ihrer eigenen Bürger in die Wertegemeinschaft der Art. 1–19 Grundgesetz bemüht. Ohne diese aber gibt es kaum Ansatzpunkte für eine Aufnahme von Fremden als Gleiche in einer Region, die zu Kaisers Zeiten die östlichen Nachbarn als ‚Polacken‘ verunglimpft hatte und die 1945 nahtlos von der braunen in die blaue Diktatur übergegangen war, die eine mit staatlicher Inszenierung des deutschen Herrenmenschen, die andere mit staatlichen Exklusionsmechanismen für die „„Fīdschis“[4] und andere Vertragsarbeiter. Beheimatung in einer auf „Offenheit“ angelegten Verfassungsstruktur kann einer technizistisch-administrativ angelegten Politik nicht gelingen. Einer retrograd angelegten Kulturpolitik genauso wenig. Wie aber könnte Beheimatung gelingen?
Migration als Normalfall
In seiner „Ankommens“-Studie plädiert der Forschungsverbund für eine bildungs- und kulturpolitische Befestigung der Einsicht, dass Deutschlands Geschichte eine von Ein-, Durch- und Auswanderung ist, dass Migration der Normalfall ist, und dass Innovation und Integration zwei Seiten der gleichen Medaille sind.
Eine solche Befestigung in den Vorstellungswelten der Deutschen auf beiden Seiten der Elbe kann nur langfristig und durch eine neuartige, auf die kulturellen Voraussetzungen von Integration[5] setzende Kulturpolitik geschehen. Im Mittelpunkt künftiger Forschungen und kulturpolitischer Handlungsempfehlungen kann daher kein präideologisiertes Multikulti stehen, sondern ein Ringen um Interkulturalität und vor allem um Intrakulturalität.
Integration ist eine Kulturfrage
Integration ist eine Kulturfrage. Ohne kulturelle Kompetenz lässt sich interkulturelle Kompetenz nicht erreichen. In Handlungsvorschlag 7.4 der Studie Ankommen in der deutschen Lebenswelt (2016, S. 380-392) wurde die wissenschaftliche Erarbeitung eines komplexeren Zugangs zu Integrationsfragen und zur interkulturellen Öffnung bereits skizziert, namentlich zu den erheblichen Datenlücken der bisherigen Migrationsstatistik und zu den Praxen und Prägefaktoren gelingender Kulturaneignung. Hierbei ist die Grundfrage nach gesellschaftlichem Zusammenhalt und interkultureller Integration in eine kleingliedrige und systematisch tiefentwickelte Fragestellung zu überführen, stets vor dem Hintergrund eines Bemühens um nachhaltige Lösungsansätze für die gemeindliche, staatliche, korporative, kirchliche sowie zivilgesellschaftliche Praxis und damit für eine Grundverortung der Bürger der Bundesrepublik.
In der gegenwärtigen Integrationsdiskussion erscheinen sozialisationstheoretische Ansätze und Problemaspekte der Integrationsvoraussetzungen, Integrationsschwierigkeiten und spezifischen Herausforderungen der sozialen Eingliederung von Migranten, insbesondere aus anderen Kulturkreisen und traditionalen Sozialmilieus, weitgehend unteranalysiert. Eine gründliche Analyse dieser Ausgangspunkte einer erfolgreichen „Spätsozialisation“ und eine strengen Anforderungen genügende Theorie der Interkulturalität sind aber für nahezu alle praktische Integrationsbemühungen in den einzelnen zentralen Handlungsfeldern unerlässlich.
Auch mit Blick auf (i) vermeidbare Kosten von Sicherheit und auf (ii) volkswirtschaftliche Gewinne muss Integrationspolitik heute bei der Modellierung von Vorstellungswelten beginnen. Zu fragen ist nach mentalem Heimischwerden durch handlungsleitende Verinnerlichung der kulturellen Leitvorstellungen der (i) intergenerationellen oder (ii) migratorischen Aufnahmegesellschaft, durch soziale Inklusion und durch erfolgreiches Einbringen eigener kultureller Beiträge in die Aufnahmegesellschaft. Welche Bedingungen müssen für eine „Rückversicherung im Eigenen“ (Patzelt) durch Aufnahme von Fremden (i) auf einer theoretischen und (ii) auf einer praktischen Ebene erfüllt sein, damit Gemeinden, Gemeindeverbände, Unternehmen und Zivilgesellschaft als die entscheidenden Akteursgruppen Migranten nicht nur pflichtgemäß, sondern auch gerne aufnehmen? Wie lassen sich Modelle einer gezielten Förderung der Vermittlung von Interkulturalität und gesellschaftlichem Zusammenhalt auf Bundes- und Länderebene entwickeln? In welchen Formen und Inhalten kann der gemeindlichen, staatlichen, korporativen, kirchlichen sowie zivilgesellschaftlichen Praxis mit einem »Handbuch Praxis der Interkulturellen Öffnung« unmittelbar Rat an die Hand gegeben werden? Die Studie „Ankommen in der deutschen Lebenswelt“ ist nur ein Anfang, aber ein mutmachender.
Erstdruck
Dieser Text erschien in leicht gekürzter Fassung unter Die Ankommenden. Gesellschaftlicher Zusammenhalt und (kulturelle) Integration. In: Deutscher Kulturrat (Hrsg.): Politik & Kultur 2/17, S. 33. On-line unter https://www.kulturrat.de/wp-content/uploads/2017/02/puk02-17.pdf
Anmerkungen
[1] Vgl. Matthias Theodor Vogt: A Question of Singular. Ought We to Tackle Research on Interculturality in an Interdisciplinary Approach? www.kultur.org/forschungen/interculturality.
[2] Vgl. innerhalb der hier gegebenen Thematik das Kolloquium „Migranten-Enkulturation und regionale Resilienz“ 18. November 2015 mit Forschern aus CZ, DE, FR und IT unter Beteiligung von Abgeordneten von CDU, SPD, Grünen und Linken: http://kultur.org/uploads/veranstaltungen/merr/MERR-Kolloquium-18-11-2015-151023.pdf.
[3] u.a. Wahlvorschlag der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU) bei den Wahlen zum 6. und 7. Europäischen Parlament im Freistaat Sachsen 2004 und 2009.
https://www.statistik.sachsen.de/wpr_alt/pkg_w04_bew.prc_lw_liste_kand?p_bz_bzid=EW04&p_lnr=1
https://www.statistik.sachsen.de/wpr_alt/pkg_w04_bew.prc_lw_liste_kand?p_bz_bzid=EW09&p_lnr=1.
[4] Sächsischer Dialektausdruck für Vī{e}tnamesen, nicht für Fidschi-Insulaner.
[5] Und deren öffentliche Vermittlung! Vgl. die gemeinsame Görlitzer und Berliner Ringvorlesung Der Fremde und das Andere (Alienitäts-Kompetenz) von Hochschule Zittau/Görlitz, Institut für kulturelle Infrastruktur Sachsen, Katholischer Akademie in Berlin und Evangelischer Akademie zu Berlin http://kultur.org/uploads/veranstaltungen/ost-west-kolleg/OWK_2016-17-Der_Fremde_und_das_Andere-161007.pdf